Ausgabe 3/2022

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Liebe Kolleginnen und Kollegen,

sehr geehrte Damen und Herren,


sowohl durch das Teilhabestärkungsgesetz vom 02.06.2021 als auch durch die aktuelle Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts haben sich beim betrieblichen Eingliederungsmanagement, kurz BEM, Neuerungen ergeben, die die Rechte der betroffenen Arbeitnehmer stärken. In der Rubrik „Ein-Blick“ stellen wir die Neuerungen vor und bewerten diese.

Das Bundesarbeitsgericht hat sich mit der Frage auseinandergesetzt, ob der Betriebsrat oder der Gesamtbetriebsrat für die unternehmenseinheitliche Einführung und Anwendung von Microsoft Office 365 nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG zuständig ist. In der Rubrik „Betriebsräte“ besprechen wird diese aktuelle Entscheidung.

In der Rubrik „Arbeitnehmer“ stellen wir eine praxisrelevante Entscheidung des LAG Baden-Württemberg zum Thema Sonderzahlung vor. Konkret geht es um die Frage, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen ein dauerhaft erkrankter Arbeitnehmer Anspruch auf Weihnachtsgeld hat.

Neben den oben genannten haben wir weitere interessante Gerichtsentscheidungen zum Individual- wie auch zum Kollektivarbeitsrecht in Kurzform aufbereitet.

Wir wünschen viel Vergnügen bei der Lektüre des Newsletters!

Eure/Ihre
schwegler rechtsanwälte

Inhalt

Ein-Blick

Neuerungen beim betrieblichen Eingliederungsmanagement
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Betriebsräte

Zuständigkeit des Gesamtbetriebsrates bei unternehmensweiter Nutzung von Microsoft Office 365
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Betriebsräte

Kurzüberblick über Entscheidungen

  • Betriebsrat kann keinen Sozialplan erzwingen, wenn er erst nach Beginn der Umsetzung der Betriebsänderung gegründet wurde

  • Keine Anscheinsvollmacht des Betriebsratsvorsitzenden und Bestehen einer Nebenpflicht zur Aushändigung des Sitzungsprotokolls über den Betriebsratsbeschluss

  • Keine Mitbestimmung bei Anweisung des Arbeitgebers, dass Rauchen nur in den Pausen gestattet ist

  • Betriebsrat kann Zurverfügungstellung dienstlicher E-Mail-Adressen der Beschäftigten verlangen

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Arbeitnehmer

Ohne Zweckbestimmung können kranke Arbeitnehmer bei Sonderzahlungen leer ausgehen
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Arbeitnehmer

Kurzüberblick über Entscheidungen

  • Das Fehlen von Soll-Angaben bei einer Massenentlassung führt nicht zur Unwirksamkeit der Massenentlassungsanzeige

  • Kein Anspruch auf eine Dankes- und Wunschformel im Arbeitszeugnis

  • Urlaubsanspruch erlischt bei mehrjähriger Arbeitsunfähigkeit

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Veröffentlichungen

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Impressum

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Ein-Blick

Neuerungen beim betrieblichen Eingliederungsmanagement


I.        Einleitung

Ist ein Arbeitnehmer innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig erkrankt, ist – dessen Zustimmung vorausgesetzt - der Arbeitgeber verpflichtet, zusammen mit der zuständigen Interessenvertretung, bei schwerbehinderten Menschen außerdem mit der Schwerbehindertenvertretung, die Möglichkeiten zu klären, wie die Arbeitsunfähigkeit möglichst überwunden werden und mit welchen Leistungen oder Hilfen erneuter Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt und der Arbeitsplatz erhalten werden kann. Diese gesetzliche Definition des betrieblichen Eingliederungsmanagements, kurz BEM, schreibt weder konkrete Maßnahmen noch ein bestimmtes Verfahren vor.

Gerade weil es für das BEM keine festen gesetzlichen Vorgaben gibt, hat die Rechtsprechung formelle Anforderungen entwickelt, die es zu beachten gilt. Nicht nur in der Rechtsprechung des BAG, sondern auch seitens des Gesetzgebers gab es im vergangenen Jahr einige Neuerungen beim BEM-Verfahren. In diesem Beitrag werden die aktuellen Urteile des BAG und die Gesetzesänderung im Gesamtkontext dargestellt.


II.     Einleitung des BEM-Verfahrens

1.      Wer kann das BEM-Verfahren initiieren?

§ 167 Abs. 2 SGB IX regelt, dass der Arbeitgeber die Initiative zur Durchführung des BEM zu ergreifen hat. Seine Aufgabe ist es, die gesetzlich vorgesehenen Personen, Interessenvertreter und Ämter zu beteiligen und zusammen mit ihnen ernsthaft eine an den Zielen des BEM orientierte Klärung zu versuchen. Die Initiativ- bzw. Angebotslast liegt allein beim Arbeitgeber, insbesondere den betroffenen Beschäftigten trifft keine Pflicht zum Handeln.

2.      Wer darf am BEM-Verfahren teilnehmen?

a)     Bisheriger Teilnehmerkreis

Zu beteiligen ist zunächst einmal der betroffene Arbeitnehmer selbst. Was selbstverständlich klingt, war umstritten. So hatte das BAG noch in seinem Beschluss vom 19.11.2019 (1 ABR 36/18) klargestellt, dass der konkret-individuelle Klärungsprozess des § 167 Abs. 2 Satz 1 SGB IX nicht ohne Beteiligung des Arbeitnehmers stattfindet. Neben ihm und den internen Repräsentanten des Arbeitgebers sind die Interessenvertretung, also der Betriebs- oder Personalrat, beim kirchlichen Arbeitgeber die Mitarbeitervertretung, bei schwerbehinderten Menschen zusätzlich die Schwerbehindertenvertretung, bei Bedarf („soweit erforderlich“) der Werks- oder Betriebsarzt und dann, sobald staatliche Leistungen zur Teilhabe oder begleitende Hilfen im Arbeitsleben in Betracht kommen, der Rehabilitationsträger, bei schwerbehinderten Beschäftigten zusätzlich das Integrationsamt hinzuzuziehen.

Zu beachten ist dabei, dass, auch wenn die Beteiligung von Betriebs-, Personalrat oder Mitarbeitervertretung und Schwerbehindertenvertretung sowie Werks- oder Betriebsarzt in der Verantwortung des Arbeitgebers liegt, deren Hinzuziehung in jedem Verfahrensstadium ausnahmslos an die Zustimmung des betroffenen Arbeitnehmers geknüpft ist.

b)     Neu: Vertrauensperson

Als betriebsfremde Teilnehmer an den Gesprächen sah der Gesetzgeber bisher nur Betriebsarzt, Rehabilitationsträger und Integrationsamt vor, nicht aber externe Bevollmächtigte des betroffenen Arbeitnehmers wie Rechtsanwälte oder Verbandsvertreter. Auch die Rechtsprechung lehnte bislang die Hinzuziehung eines Beistands ab. Der Arbeitnehmer war bei seinem Wunsch nach externer Begleitung daher auf den „good will“ des Arbeitgebers angewiesen. Durch das sog. Teilhabestärkungsgesetz vom 02.06.2021 erfolgte eine Rechtsänderung: In der seit dem 01.01.2022 gültigen Gesetzesfassung ist in § 167 Abs. 2 Satz 2 SGB IX nun geregelt, dass der betroffene Arbeitnehmer eine „Vertrauensperson eigener Wahl“ hinzuziehen kann. Nach der Gesetzesbegründung können dieses sowohl Betriebsangehörige als auch betriebsfremde Personen sein. In Betracht kommen daher z.B. ein Betriebsratsmitglied, ein sonstiger Kollege, ein Therapeut, ein Arzt, der Ehe- oder Lebenspartner, aber auch ein Rechtsanwalt. Die Entscheidung, ob und ggf. wer hinzugezogen wird, liegt allein beim BEM-Berechtigten (BT-Drs. 19/28834, S. 57). Damit wird erkennbar an das für bestimmte höchstpersönliche Angelegenheiten in den §§ 82 Abs. 2 Satz 2, 83 Abs. 1 Satz 1 und 84 Abs. 1 Satz 2 BetrVG bestehende Recht auf Hinzuziehung eines vom Belegschaftsangehörigen bestimmten Mitglieds des Betriebsrats angeknüpft.

Zu beachten ist, dass diese Möglichkeit eine Vertrauensperson hinzuzuziehen im Einladungsschreiben enthalten sein muss, ebenso der Hinweis auf die Kostentragung - ansonsten ist das BEM-Verfahren nicht ordnungsgemäß eingeleitet.

c)      Rechtliche Bewertung

Die Neuregelung zur Vertrauensperson ist eine echte Stärkung des BEM, denn sie unterstützt und begleitet den Arbeitnehmer. Die Vertrauensperson ist gleichgestellt mit anderen Beteiligten des BEM; sie hat ein Rederecht und erhält sämtliche Unterlagen und Informationen des BEM-Verfahrens. Der Gesetzgeber hat keinen Anlass gesehen hat, dem Arbeitgeber eine Pflicht zur Kostenübernahme aufzuerlegen. Auch die Kostentragungsbestimmungen aus § 40 BetrVG, § 179 Abs. VIII SGB IX und § 46 BPersVG greifen nicht ein. Das bedeutet, die Beschäftigten haben die Kosten der Hinzuziehung ihres persönlichen Beistandes (z.B. Arzt- oder Anwaltshonorare) selbst zu tragen, sofern die Hinzugezogenen nicht ehrenamtlich oder in Ausübung eines Amts unentgeltlich tätig werden. Ob die Rechtsschutzversicherungen oder auch die Krankenkassen die Kosten übernehmen, ist ungeklärt und wird als Folgefragen die Gerichte beschäftigen.

Aufgrund der Gesetzesänderung wird es notwendig sein in allen Betriebsvereinbarungen, in denen das BEM-Verfahren geregelt ist, diese Neuerung bezüglich der am BEM-Verfahren beteiligten Personen aufzunehmen. Dabei sollten nicht nur die Aspekte bezüglich Vollmachten und Aushändigung von Unterlagen geregelt werden, sondern auch die Frage der Kostentragung für die Hinzuziehung der Vertrauensperson.

3.      Können Arbeitnehmer die Durchführung eines BEM-Verfahrens erzwingen?

a)     Urteil des BAG

In der Vergangenheit war lange umstritten und wurde von den Instanzengerichten unterschiedlich beurteilt, ob ein Arbeitnehmer einen einklagbaren Anspruch auf Durchführung eines BEM hat. Das BAG hat mit Urteil vom 07.09.2021 (9 AZR 571/20) geklärt, dass § 167 SGB IX keinen Individualanspruch der betroffenen Arbeitnehmer auf die Einleitung und Durchführung eines BEM gewährt.

b)  Begründung des BAG

Das BAG begründet seine Entscheidung damit, dass bereits nach dem Wortlaut die zuständigen Interessenvertretungen darüber wachten, dass der Arbeitgeber die ihm nach dieser Vorschrift obliegenden Verpflichtungen erfülle. Entsprechende Rechte und Aufgaben sehe die gesetzliche Regelung für die betroffenen Arbeitnehmer jedoch nicht vor. Die Gerichte müssten die gesetzgeberische Grundentscheidung respektieren, nur den in § 167 Abs. 2 SGB IX genannten Stellen, nicht aber den betroffenen Arbeitnehmern einen Anspruch auf Einleitung und Durchführung des BEM einzuräumen. Deshalb komme auch ein Anspruch aus dem Gebot der Rücksichtnahme als vertragliche Nebenpflicht aus oder aus einer Konkretisierung der Schutzpflichten des Arbeitgebers nicht in Betracht, so das BAG.

c)   Rechtliche Bewertung

Eine echte Stärkung des BEM, wie im Koalitionsvertrag vom 24.11.2021 von den Regierungsparteien angekündigt, wäre es gewesen, dem Beschäftigten einen gesetzlichen Individualanspruch auf Durchführung eines BEM zu geben. Solange der Gesetzgeber nicht tätig wird, ist das Urteil des BAG zu beachten. Dieses zeigt einmal mehr, wie wichtig es ist, dass die jeweiligen Interessenvertreter ihre Beteiligungsrechte geltend machen und damit für betroffene Arbeitnehmer den Anspruch auf Durchführung des BEM sichern.

EXKURS: Beteiligungsrechte des Betriebsrats

Betriebs- und Personalrat stehen die Rechte auf Mitklärung nach § 167 Abs. 2 Satz 1 und Satz 7 SGB IX sowie auf Überwachung der BEM- Pflichten des Arbeitgebers nach § 167 Abs. 2 Satz 8 SGB IX zu.

Nach § 167 Abs. 2 Satz 7 SGB IX, § 80 Abs. 2 Satz 1 BetrVG und nach den Personalvertretungsgesetzen können Betriebs- oder Personalrat unabhängig von einer Zustimmung der Arbeitnehmer beanspruchen, dass ihnen der Arbeitgeber in regelmäßigen Abständen die Arbeitnehmer benennt, die die Voraussetzungen für die Durchführung des BEM erfüllen. Aufgrund des bestehenden Überwachungsrechts muss der Arbeitgeber dem Betriebsrat die Namen der BEM Berechtigten auch dann mitteilen, wenn diese der Weitergabe nicht zugestimmt haben. Voraussetzung ist allerdings, dass die Interessenvertretung zur Wahrung der Interessen der von der Datenverarbeitung betroffenen Arbeitnehmer angemessene und spezifische Schutzmaßnahmen trifft, denn bei den Informationen handelt es sich um sensible Daten. Der Wortlaut des § 167 Abs. 2 Satz 7 SGB IX lässt durch die Verwendung des Wortes „verlangen“ erkennen: Betriebsrat, Personalrat und Schwerbehindertenvertretung haben ein eigenes Initiativrecht zur Einleitung und Durchführung des BEM. Dieses Recht wird allerdings beschränkt durch die in Abs. 2 Satz 1 für jeden Einzelfall geforderte Zustimmung des erkrankten Beschäftigten. Lehnt dieser nach Aufklärung über die Ziele des BEM dennoch dessen Durchführung ab, so endet damit das Klärungsverfahren. Auch eine Beteiligung der Interessenvertretungen an dem konkreten Klärungsprozess nach § 167 Abs. 2 Satz 1 SGB IX setzt das Einverständnis des betroffenen Arbeitnehmers voraus.

Dem Betriebs- oder Personalrat und – sofern schwerbehinderte Menschen betroffen sind – der Schwerbehindertenvertretung kommen nach § 167 Abs. 2 Satz 8 SGB IX ein Überwachungsrecht zu. Sie überwachen, dass der Arbeitgeber auch im Übrigen seine Verpflichtungen im Rahmen des BEM erfüllt. Dies ist nicht davon abhängig, ob die betroffenen Arbeitnehmer dem zustimmen. Bei Untätigkeit des Arbeitgebers kann zusätzlich auch die Durchführung von Maßnahmen beantragt werden gem. § 167 Abs. 2 Satz 7 SGB IX.


III.  Wann ist ein BEM durchzuführen und wann endet es?

1.      Problemstellung

Nach § 167 Abs. 2 Satz 1 SGB IX ist ein BEM durchzuführen, wenn der Arbeitnehmer innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen am Stück oder wiederholt und dabei insgesamt sechs Wochen arbeitsunfähig ist. In der Praxis stellt sich immer wieder die Frage, ab wann der Ein-Jahres-Zeitraum zu laufen beginnt und wann Beschäftigten (insbesondere vor Ausspruch einer krankheitsbedingten Kündigung) erneut ein BEM angeboten werden muss, wenn sie nach einem bereits durchgeführten BEM erneut sechs Wochen arbeitsunfähig erkrankt waren oder wenn sie bereits zu dem früheren Zeitpunkt ein BEM abgelehnt haben. In Literatur und Rechtsprechung waren diese Fragen bisher umstritten. Das BAG hat sich in seiner viel beachteten Entscheidung vom 18.11.2021 (2 AZR 138/21) zur „Haltbarkeit“ des BEM nun zu folgenden Fragen geäußert:

a)     Was gilt bezüglich des Ein-Jahres-Zeitraumes?

Das BAG stellt in seiner Entscheidung klar, dass die Formulierung „innerhalb eines Jahres“ so zu verstehen ist, dass eine Arbeitsunfähigkeit von länger als sechs Wochen lediglich innerhalb des zurückliegenden Jahreszeitraums aufgetreten sein muss. Der Jahreszeitraum bezieht sich dabei nicht auf einen Mindestbetrachtungszeitraum von zwölf Monaten, sondern das Gesetz gibt als Bezugszeitraum für Arbeitsunfähigkeit von durchgängig oder wiederholt länger als sechs Wochen maximal die vergangenen 365 Tage, gerechnet ab dem Überschreiten von sechs Wochen Arbeitsunfähigkeit, vor. Dabei ist eine kalenderjahresübergreifende Betrachtung vorzunehmen. Der Referenzzeitraum von einem Jahr kann jederzeit beginnen und sich so fortlaufend aktualisieren.

b)     In welchem zeitlichen Abstand ist erneut ein BEM durchzuführen?

Wurde ein BEM durchgeführt und erkrankte der Arbeitnehmer innerhalb von zwölf Monaten erneut, stellte sich die Frage ob erneut ein BEM durchzuführen ist, obwohl der im Gesetz genannte Zeitraum von einem Jahr noch nicht (erneut) abgelaufen ist. Auch hierzu hat das BAG in der oben zitierten Entscheidung Stellung bezogen und klargestellt, dass wenn der Arbeitnehmer nach Abschluss eines BEM erneut innerhalb eines Jahres für mehr als sechs Wochen erkrankt, grundsätzlich erneut ein BEM durchzuführen ist – und zwar auch dann, wenn seit dem zuvor durchgeführten BEM noch nicht wieder ein Jahr vergangen ist.

Zur Begründung führt das BAG an, Sinn und Zweck des BEM ist es, durch eine geeignete Gesundheitsprävention das Arbeitsverhältnis möglichst dauerhaft zu sichern. Der Handlungsbedarf für eine Sicherung des Arbeitsverhältnisses entsteht bereits mit Arbeitsunfähigkeitszeiten von mehr als sechs Wochen, die sich auf nicht mehr als ein Jahr verteilen. Denn das ist die kritische Schwelle, die unter weiteren Voraussetzungen zur sozialen Rechtfertigung einer Kündigung führen kann. Die Präventionswirkung lässt sich nicht in gleichem Maße erreichen, wenn trotz bereits eingetretener Arbeitsunfähigkeitszeiten von mehr als sechs Wochen zunächst ein Mindestbetrachtungszeitraum von einem Jahr abgewartet werden könnte. Ein weiteres Zuwarten ändert nämlich nichts an der Bestandsgefährdung durch die im Jahreszeitraum erneut aufgetretenen Fehlzeiten; es drohen vielmehr lediglich neue Zeiten von Arbeitsunfähigkeit hinzuzukommen.

Ein einmal durchgeführtes BEM hat also kein „Mindesthaltbarkeitsdatum“ von einem Jahr. Der Abschluss eines BEM ist daher der Tag „Null“ für einen neuen Referenzzeitraum von einem Jahr.

c)      Was ist, wenn der Arbeitnehmer während des laufenden BEM-Verfahrens arbeitsunfähig wird?

Wenn während eines noch laufenden BEM-Verfahrens weitere Zeiten von Arbeitsunfähigkeit von mehr als sechs Wochen hinzukommen, ist kein parallel zum ersten BEM-Verfahren zusätzliches BEM durchzuführen. Denn dem Ziel, dem Arbeitnehmer durch eine geeignete Gesundheitsprävention möglichst sein Arbeitsverhältnis zu erhalten, ist ausreichend dadurch gedient, dass während eines noch laufenden BEM auftretende Zeiten von Arbeitsunfähigkeit sowie mögliche Veränderungen in den Krankheitsursachen oder betrieblichen Verhältnissen in dieses einbezogen werden. Ein weiteres BEM ist nur bzw. kann nur dann erforderlich werden, wenn ein vorheriges bereits abgeschlossen war.

d)     Wann ist ein BEM beendet?

Diese Frage stellt sich im Hinblick darauf, dass der Abschluss eines BEM zugleich als Tag „Null“ für die Berechnung des neuen Jahreszeitraumes gilt und dass ein fehlendes BEM Auswirkungen auf die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast im Kündigungsschutzprozess wegen krankheitsbedingter Kündigung hat.

Das BAG hat sich zu der Frage, ab welchem Zeitpunkt ein BEM als abgeschlossen betrachtet werden kann, allerdings bisher nicht abschließend geäußert. Nach der aktuellen Rechtsprechung des BAG ist ein BEM aber jedenfalls dann abgeschlossen, wenn

  • sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer einig sind, dass der Suchprozess durchgeführt ist oder nicht weiter durchgeführt werden soll oder

  • der Arbeitnehmer die Teilnahme am BEM verweigert oder er seine Zustimmung für die weitere Durchführung nicht erteilt oder

  • wenn von allen beteiligten Stellen keine ernsthaft weiterzuverfolgenden Ansätze für zielführende Präventionsmaßnahmen aufgezeigt werden.

Mit „alle beteiligten Stellen“ meint das BAG nicht nur Arbeitgeber und Arbeitnehmer, sondern auch den Betriebsrat, die Schwerbehindertenvertretung, den Betriebsarzt, die Rehabilitationsträger, das Integrationsamt sowie die Vertrauensperson des Arbeitnehmers.

Der Arbeitgeber kann das BEM grundsätzlich nicht einseitig beenden.

2.      Rechtliche Bewertung

Das Urteil hat große Praxisrelevanz für krankheitsbedingte Kündigungen. Mit der Entscheidung vom 18.11.2021 hat das BAG einem abgeschlossenen BEM ausdrücklich kein „Mindesthaltbarkeitsdatum“ zugestanden. Damit kommt der Frage, ob vor dem Ausspruch einer krankheitsbedingten Kündigung ein ordnungsgemäßes BEM durchgeführt wurde, noch mehr Bedeutung zu. Zwar ist die Durchführung eines BEM keine Wirksamkeitsvoraussetzungen für eine krankheitsbedingte Kündigung. Allerdings hat ein fehlerhaftes oder unterlassenes BEM zur Folge, dass die Darlegungs- und Beweislast hinsichtlich der Weiterbeschäftigungsmöglichkeit des Arbeitnehmers faktisch zu Lasten des Arbeitgebers umgekehrt wird.

Die Frage, zu welchem Zeitpunkt ein BEM abgeschlossen ist, ist im Gesetz nicht näher geregelt. Praxisrelevant sind daher auch die Hinweise, die das BAG zu dieser Frage in seinem Urteil gegeben hat. Auch diesbezüglich sollten Betriebsvereinbarungen zum BEM angepasst werden. Wie das BAG in seinem Urteil ausdrücklich betont, kommt den Hinweisen allerdings keine Vollständigkeit zu.

Ariane Mandalka, Frankfurt

Ariane Mandalka

Frankfurt/Main

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Betriebsräte

Zuständigkeit des Gesamtbetriebsrates bei unternehmensweiter Nutzung von Microsoft Office 365
BAG, Beschluss vom 08.03.2022 – 1 ABR 20/21


I. Problemstellung

In diesem Beitrag geht es um die Frage der originären Zuständigkeit eines Gesamtbetriebsrats nach § 50 Abs. 1 BetrVG bei unternehmensweiter Einführung und Anwendung von Microsoft Office 365.


II. Sachverhalt

Vorliegend machte ein örtlicher Betriebsrat als Antragsteller im Rahmen eines Beschlussverfahrens seine Zuständigkeit für die Mitbestimmung nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG bezüglich der Einführung und Anwendung von Microsoft Office 365 im Betrieb gerichtlich geltend. Die Arbeitgeberin unterhielt mehrere Betriebe, unter anderem ein Verteilungszentrum mit rund 2.000 Mitarbeitern. Für diesen Betrieb war der antragstellende Betriebsrat gebildet. An dem gerichtlichen Verfahren waren neben diesem Betriebsrat und der Arbeitgeberin noch acht weitere, örtliche Betriebsräte sowie der auf Unternehmensebene gebildete Gesamtbetriebsrat beteiligt.

Die Arbeitgeberin strebte an, für alle Betriebe des Unternehmens das Softwarepaket Microsoft Office 365 einzuführen. Dabei bestand das genannte Softwarepaket aus diversen Einzelanwendungen (z.B. Flow, Forms, Teams etc.), wobei die Nutzung im Wege der so genannten „1-Tenant-Lösung“ erfolgen sollte. Diese Nutzungsart bedeutete, dass das gesamte Unternehmen der Arbeitgeberin bezogen auf die elektronische Datenverarbeitung als ein einheitlicher Nutzer („Tenant“) mit einer zentralen Administration angesehen wurde. Diesbezüglich adressierte die Arbeitgeberin den Gesamtbetriebsrat, der seine Zustimmung zur unternehmensweiten Einführung des Softwarepaketes im April 2019 ausdrücklich erteilte.

Der antragstellende Betriebsrat des Verteilungszentrums machte gegenüber der Arbeitgeberin geltend, dass er als örtliches Gremium wenigstens in Teilen für die Mitbestimmung bei Einführung und Anwendung des Softwarepaketes zuständig sei. Insofern zweifelte er eine originäre Zuständigkeit des Gesamtbetriebsrats an, weil es hierfür im Kern keine technische Notwendigkeit gebe. Wesentliches Argument war dabei, dass man die zentralen Administratorrechte auf betrieblicher Ebene regeln und die Anwendung in den jeweiligen Betrieben unterschiedlich ausgestalten konnte. Sowohl das ArbG Bonn als auch das LAG Köln wiesen die entsprechenden Feststellungsanträge des Betriebsrats zurück. Dieser legte gegen die Entscheidung des LAG Köln Rechtsbeschwerde beim BAG ein, scheiterte jedoch auch letztinstanzlich.


III. Entscheidung

Der erste Senat des BAG befasste sich einerseits mit der Frage einer originären Zuständigkeit des Gesamtbetriebsrats nach § 50 Abs. 1 BetrVG für eine Mitbestimmung aus § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG und kam dabei zu dem Ergebnis, dass eine solche Zuständigkeit im vorliegenden Fall zu bejahen sei, weil Einführung und Anwendung der neuen Software eine Angelegenheit darstellten, die mehrere Betriebe betreffe und nicht durch die einzelnen Betriebsräte geregelt werden könne. Dies folgte nach Ansicht des BAG aus dem Umstand, dass die Administration des Softwarepaketes nur einheitlich für das gesamte Unternehmen (dem „Tenant“) erfolgen könne. Entsprechend wurden auch die Administrationsrechte zentral gesteuert und vergeben. Die Tatsache, dass es möglich war, an einzelnen Modulen des Paketes benutzerbezogene (und damit auch betriebsbezogene) Einstellungen vorzunehmen, ließ den ersten Senat zu keinem anderen Ergebnis gelangen. Denn dieser Umstand änderte nichts daran, dass der zentrale Administrator z.B. in der Lage war, bei allen Nutzern in den einzelnen Betrieben nachzuverfolgen, zu welchen Zeiten sie sich im Internet befanden und ihre Benutzerdaten einzusehen. Diese zentrale Überwachungsmöglichkeit gab aus Sicht des BAG den Ausschlag, um eine originäre Zuständigkeit des Gesamtbetriebsrats begründen zu können. Nach Bejahung dieser Zuständigkeit wies das BAG dann noch darauf hin, dass der Gesamtbetriebsrat im Gefolge seiner Zuständigkeit dazu berufen sei, sämtliche Umstände der betreffenden Angelegenheit mit der Arbeitgeberin zu regeln. Dies gelte auch dann, wenn die Module des Softwarepaketes betriebsspezifische Regelungen zulassen. Es handele sich insofern um eine einheitliche und untrennbare Angelegenheit.


IV. Rechtliche Bewertung

Dass Einführung und Anwendung eines Softwarepakets wie Microsoft Office 365 grundsätzlich der Mitbestimmung nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG unterfallen, ist nicht neu. In der Vergangenheit hat das BAG dies bereits in Bezug auf die Standardsoftware Microsoft Excel ausdrücklich entschieden und damit begründet, dass solche Software das Sammeln von Informationen über Arbeitnehmer als auch deren Auswertung ermöglicht – dabei kommt es auf eine Art „Geringfügigkeitsschwelle“ nicht an (vgl. BAG vom 23.10.2018 – 1 ABN 36/18). Gleiches gilt auch für Microsoft Office 365.

Daran schließt dann in der Praxis häufig die Frage an, welches Gremium für die Ausübung der entsprechenden Mitbestimmung zuständig ist. Nach dem Grundsystem des BetrVG ist der örtliche Betriebsrat im Ausgangspunkt hierfür regelmäßig zuständig, es sei denn, es kommt eine originäre Zuständigkeit des Gesamtbetriebsrats (§ 50 Abs. 1 BetrVG) oder des Konzernbetriebsrats (§ 58 Abs. 1 BetrVG) in Betracht. Möglich sind ferner Mandatierungen des Gesamt- oder Konzernbetriebsrats in bestimmten Angelegenheiten (vgl. §§ 50 Abs. 2, 58 Abs. 2 BetrVG) durch die örtlichen Betriebsräte bzw. Gesamtbetriebsräte. Für den vorliegenden Fall der Einführung und Anwendung einer zur Überwachung geeigneten Software wird aufgrund einer zentralen Verwaltung und Steuerung der Software die originäre Zuständigkeit eines Gesamtbetriebsrats nahezu regelmäßig in Betracht kommen, gleiches bei konzernweiter Einführung für den Konzernbetriebsrat. Insofern hat die vorliegende Entscheidung des ersten Senates eher bestätigenden Charakter für die Fragen der Zuständigkeit.


V. Fazit

Die zutreffende Prüfung und Bewertung bei der Zuständigkeitsfrage zwischen den Gremien hat für die Ausübung der zwingenden Mitbestimmung (nicht nur) nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG erhebliche Bedeutung. Denn die Ausübung dieser Mitbestimmung gipfelt regelmäßig im Abschluss einer zwischen den Betriebsparteien ausgehandelten Betriebsvereinbarung. Ist eine solche Betriebsvereinbarung aber von einem unzuständigen Gremium abgeschlossen worden, ist diese Vereinbarung unwirksam.

Für die Praxis dürfen Betriebsräte und Arbeitgeber künftig recht klar davon ausgehen, dass bei unternehmensweiter Einführung von zur Überwachung geeigneter Software und deren zentraler Steuerung und Verwaltung auf Unternehmensebene der Gesamtbetriebsrat zur Mitbestimmung berufen ist. Klargestellt wurde durch das BAG auch, dass dies selbst dann gilt, wenn einzelne Module der Software auf Ebene des Betriebs benutzerbezogene Einstellung zulassen.

Christian Mertens, Düsseldorf

Christian Mertens

Düsseldorf

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Betriebsräte


Betriebsrat kann keinen Sozialplan erzwingen, wenn er erst nach Beginn der Umsetzung der Betriebsänderung gegründet wurde
BAG, Beschluss vom 08.02.2022 – 1 ABR 2/21

Das BAG hält an seiner ständigen Rechtsprechung fest, dass ein Betriebsrat kein erzwingbares Mitbestimmungsrecht auf Abschluss eines Sozialplans hat, wenn er in einem bisher betriebsratslosen Betrieb erst nach Beginn der Umsetzung der Betriebsänderung gebildet wird. In dem der Entscheidung zugrundeliegenden Fall wurde der Betriebsrat erst nach dem Ausspruch von betriebsänderungsbedingten Kündigungen gebildet. Als Begründung führt das BAG an, dass ein Mitbestimmungsrecht in dem Zeitpunkt entsteht, in dem sich der Tatbestand verwirklicht, an den das Mitbestimmungsrecht anknüpft. Im Fall der Betriebsänderung ist das der Beginn deren Umsetzung, denn der Betriebsrat soll grundsätzlich vor Durchführung der Betriebsänderung beteiligt werden.


Keine Anscheinsvollmacht des Betriebsratsvorsitzenden und Bestehen einer Nebenpflicht zur Aushändigung des Sitzungsprotokolls über den Betriebsratsbeschluss
BAG, Urteil vom 08.02.2022 – 1 AZR 233/21

Dem Betriebsrat kann eine Erklärung auf Abschluss einer Betriebsvereinbarung, die der Vorsitzende ohne entsprechenden Beschluss des Gremiums abgegeben hat, nicht im Wege einer Anscheinsvollmacht zugerechnet werden. Der Vorsitzende ist kein Vertreter im Willen, sondern lediglich in der Erklärung. Der Betriebsrat ist ein demokratisch legitimiertes Gremium. Damit sind die Grundsätze der Anscheinsvollmacht nicht vereinbar.

Außerdem hat das BAG entschieden, dass der Betriebsrat bei Abschluss einer Betriebsvereinbarung – nach Aufforderung des Arbeitgebers – die Nebenpflicht hat, dem Arbeitgeber eine Abschrift des Teils der Sitzungsniederschrift auszuhändigen, aus dem sich die Beschlussfassung über den Abschluss der Betriebsvereinbarung ergibt. Hintergrund dessen ist, dass der Arbeitgeber die Betriebsvereinbarung umsetzen und dabei wissen muss, ob die Erklärung des Betriebsrats auf einem entsprechenden Beschluss beruht.


Keine Mitbestimmung bei Anweisung des Arbeitgebers, dass Rauchen nur in den Pausen gestattet ist
LAG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 29.03.2022 – 5 TaBV 12/21

Ordnet der Arbeitgeber an, dass das Rauchen nur in den festgelegten Pausen gestattet ist, hat der Betriebsrat diesbezüglich kein Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG. Die Anordnung betrifft nicht das Ordnungsverhalten im Betrieb, sondern das Arbeitsverhalten. Sie soll ausschließlich die Einhaltung der Arbeitszeiten sicherstellen, da das Rauchen außerhalb der Pausen eine Unterbrechung der Arbeitszeit darstellen würde. Regelungen, die die Arbeitspflicht unmittelbar konkretisieren, sind nicht mitbestimmungspflichtig.


Betriebsrat kann Zurverfügungstellung dienstlicher E-Mail-Adressen der Beschäftigten verlangen
LAG Köln, Beschluss vom 12.10.2021 – 4 TaBVGa 10/21

Das LAG Köln hat im einstweiligen Verfügungsverfahren entschieden, dass der Betriebsrat einen Anspruch auf Zurverfügungstellung der dienstlichen E-Mail-Adressen aller Arbeitnehmer hat. Im Fall des LAG Köln wurden E-Mails zur internen Kommunikation im Betrieb genutzt. Es reicht nicht aus, dass ein Großteil der E-Mail-Adressen öffentlich zugänglich ist, da der Betriebsrat für alle Arbeitnehmer zuständig ist. Laut LAG Köln muss der Betriebsrat die Möglichkeit haben, mit der Belegschaft, z.B. während Verhandlungen über Betriebsvereinbarungen, in Kontakt zu treten. Das LAG Köln sah außerdem die Vorbereitung einer Neuwahl als weiteren Grund dafür, dass der Betriebsrat mit der Belegschaft in Kontakt treten können muss.

Christina Neumann, Düsseldorf

Christina Neumann, LL.M.

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Arbeitnehmer

Ohne Zweckbestimmung können kranke Arbeitnehmer bei Sonderzahlungen leer ausgehen
LAG Baden-Württemberg, Urteil vom 22.02.2022  – 11 Sa 46/21


I. Leitsatz

Liegt einer einseitigen Arbeitgeberleistung keine konkrete Zweckbestimmung zugrunde, geht das LAG Baden-Württemberg davon aus, dass diese der Erfüllung des arbeitsvertraglichen Gegenseitigkeitsverhältnisses (Synallagma) dienen soll.


II. Sachverhalt

Die Parteien streiten über die Zahlung von Weihnachtsgeld für die Jahre 2018, 2019 und 2020. Der seit dem Jahr 2003 bei der Beklagten Beschäftigte ist seit Dezember 2017 durchgehend arbeitsunfähig erkrankt.

Vor dem Arbeitsgericht Villingen-Schwenningen verlangte der klagende Arbeitnehmer die Zahlung von jeweils EUR 1.500,00, weil ihm für die Jahre 2018, 2019 sowie 2020 entsprechendes Weihnachtsgeld zustehe. Bis einschließlich 2016 hatte der Kläger im November das Weihnachtsgeld ohne weitere Erklärungen erhalten. Im Jahr 2017 erhielt er dieses erstmals mit dem Zusatz „freiw.“ auf der Lohnabrechnung.

Die Beklagte vertrat die Ansicht, dass dem Kläger seit 2018 kein Weihnachtsgeld mehr zustehe, weil er seit Dezember 2017 keinerlei Arbeitsleistung mehr erbracht habe.

Mit Urteil vom 10.06.2021 hat das Arbeitsgericht der Klage für die Jahre 2018, 2019 und 2020 im Wesentlichen stattgegeben. Hiergegen legte die Beklagte Berufung ein.


III. Entscheidung

Das LAG Baden-Württemberg hat das Urteil des Arbeitsgerichts Villingen-Schwenningen abgeändert und die Klage zu Ungunsten des klagenden Arbeitnehmers abgewiesen.

Zwar sei es korrekt, dass für den Fall, dass ein Arbeitgeber über das arbeitsvertraglich vereinbarte Gehalt hinaus weitere Leistungen erbringt, durch Auslegung nach §§ 133, 153 BGB zu ermitteln sei, ob sich der Arbeitgeber nur zu der konkreten Leistung – also der jeweiligen Zahlung – oder darüber hinaus auch für die Zukunft – also zur grundsätzlichen Verpflichtung das Weihnachtsgeld zu bezahlen – verpflichtet habe.

Auch pflichtete das LAG Baden-Württemberg bei, dass sich eine solche grundsätzliche Verpflichtung das Weihnachtsgeld zu bezahlen, aus den Grundsätzen der betrieblichen Übung ergeben könne. Eine solche liegt vor bei der regelmäßigen Wiederholung bestimmter Verhaltensweisen des Arbeitgebers, aus denen die Arbeitnehmer schließen können, ihnen solle eine Leistung oder Vergünstigung auf Dauer gewährt werden. Aus einem solchen als Vertragsangebot zu wertenden Verhalten des Arbeitgebers, das von den Arbeitnehmern regelmäßig stillschweigend angenommen wird (§ 151 BGB) erwachsen vertragliche Ansprüche auf die üblich gewordenen Leistungen für die Zukunft.

Eine solche vertragliche Bindung für die Zukunft sei regelmäßig dann anzunehmen, wenn besondere Umstände ein schutzwürdiges Vertrauen der Arbeitnehmer begründen würden. Entscheidend sei dabei das konkrete Verhalten des Arbeitgebers und insbesondere die Intensität und Regelmäßigkeit des Verhaltens.

Im vorliegenden Fall genüge dies jedoch nicht. Zwar habe die Arbeitgeberin dem klagenden Arbeitnehmer seit dem Jahr 2003 jeweils mit dem Abrechnungsmonat November Weihnachtsgeld gezahlt, was für ein schutzwürdiges Vertrauen des Klägers genüge, solche Zahlungen auch künftig zu erhalten. Auch stünden die Vermerke „freiw.“ diesen Ansprüchen nicht entgegen.

Allerdings wirke sich die fortdauernde Arbeitsunfähigkeit des Klägers auf diesen Anspruch aus. Denn die Frage, mit welchem Vorbehalt die Arbeitgeberin die Zahlungen tätigte, sei ebenfalls durch Auslegung zu ermitteln. Diese basiere wiederum auf dem Grundsatz, dass die Vergütungspflicht im Gegenseitigkeitsverhältnis zur Arbeitspflicht stehe. Damit könne der klagende Arbeitnehmer grundsätzlich nicht davon ausgehen, dass eine von der Arbeitgeberin ohne weitere Erklärung geleistete Zahlung etwas anderes sein soll als eine in diesem Gegenseitigkeitsverhältnis stehende Leistung.

Anders gesagt: Der klagende Arbeitnehmer musste davon ausgehen, dass er das Weihnachtsgeld – wie regulären Lohn – als Vergütung für seine erbrachte Arbeitsleistung erhalten solle.

Aus Sicht des LAG Baden-Württemberg müssten Arbeitgeber Zwecke deutlich machen, die von diesem gesetzlichen Grundsatz des Gegenseitigkeitsverhältnisses abweichen sollen. Ansonsten bleibe es bei dem beschriebenen Grundsatz.

Gegen die Entscheidung wurde unter dem AZ 10 AZR 116/22 Revision eingelegt.


IV. Praxisrelevanz

Die Entscheidung hat besondere Praxisrelevanz, da sie den Grundsatz bestätigt, wonach der intendierte Zweck einer vom Arbeitnehmer erbrachten Leistung darüber entscheidet, ob es sich um eine Vergütung für bereits erbrachte Arbeitsleistungen – dann Arbeitsentgelt – oder um Vergütungen mit denen Betriebstreue honoriert werden soll – dann Gratifikation – handelt.

Das LAG Baden-Württemberg ging im vorliegenden Fall davon aus, dass es sich beim Weihnachtsgeld um Arbeitsentgelt handelte, welches wiederum nur als Gegenleistung für – erbrachte – Arbeitsleistung gezahlt werden solle. Auch unter Beachtung dieses Argumentationsmusters kann man dieses anders sehen und Zeiten der Arbeitsunfähigkeit, insbesondere in den Grenzen des vollen Entgeltfortzahlungsanspruchs, als anspruchsbegründend ansehen. Insbesondere diese Fragen wird das Bundesarbeitsgericht zu behandeln haben.

Patrick Kessler, Berlin

Patrick Kessler

Berlin

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Arbeitnehmer


Das Fehlen von Soll-Angaben bei einer Massenentlassung führt nicht zur Unwirksamkeit der Massenentlassungsanzeige
BAG, Urteil vom 19.05.2022 – 2 AZR 467/21

Die Parteien stritten über die Wirksamkeit einer Kündigung. Die beklagte Arbeitgeberin kündigte zwischen dem 18.06.2019 und dem 18.07.2019 insgesamt 17 Arbeitnehmern, nachdem sie zuvor eine Massenentlassungsanzeige mit den erforderlichen Muss-Angaben nach § 17 Abs. 3 S. 4 KSchG bei der zuständigen Arbeitsagentur abgegeben hatte. Zu den zwingend erforderlichen Muss-Angaben gehören z.B. Name des Arbeitgebers, Sitz und Art des Betriebes, die Gründe für die geplante Entlassung, die Zahl und die Berufsgruppe der zu entlassenden und in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer, der Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen und die Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer. Die Arbeitnehmerin war der Ansicht, dass auch die in § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG genannten Soll-Angaben, wie Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit der zu entlassenen Arbeitnehmer abgegeben werden müssen, da ansonsten die Kündigung unwirksam ist.

Das BAG folgte dieser Rechtsauffassung nicht. Nur das Fehlen von Muss-Angaben führt zur Unwirksamkeit der Kündigung wegen Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot nach § 134 BGB, nicht aber das Fehlen von Soll-Angaben.


Kein Anspruch auf eine Dankes- und Wunschformel im Arbeitszeugnis
BAG, Urteil vom 25.01.2022 – 9 AZR 146/21

Das BAG bestätigt seine Rechtsprechung mit der hiesigen Entscheidung und entschied, dass ein Arbeitnehmer keinen Anspruch auf eine Dankes- und Wunschformel im Abschlusszeugnis hat – auch wenn es in der Praxis nach wie vor üblich ist, dass sich der Arbeitgeber für die geleistete Arbeit bedankt und dem Arbeitnehmer für die Zukunft alles Gute wünscht.

Wie bereits im Jahre 2001 entschied das BAG, dass sich ein Anspruch auf eine Dankes- und Wunschformel im Zeugnis nicht aus dem Gesetz ergibt. Mit einer Dankes- und Wunschformel werden nur Gedanken und Gefühle zum Ausdruck gebracht, die weder Rückschlüsse auf die Art und Weise, wie der Arbeitnehmer seine Aufgaben erledigt hat, noch auf die für das Arbeitsverhältnis wesentlichen Charaktereigenschaften des Arbeitnehmers zulassen.


Urlaubsanspruch erlischt bei mehrjähriger Arbeitsunfähigkeit
LAG Hamm, Urteil vom 17.02.2022 – 5 Sa 872/21

Der Arbeitnehmer war über mehrere Jahre hinweg arbeitsunfähig erkrankt. Im Jahre 2021 wurde das Arbeitsverhältnis beendet. Der Arbeitnehmer verlangte im Anschluss die Abgeltung seines Urlaubs aus den Jahren 2016 und 2017 mit der Begründung, der Arbeitgeber sei seiner Mitwirkungsobliegenheit nicht nachgekommen und habe den Arbeitnehmer nicht darauf hingewiesen, dass der Urlaub im laufenden Kalenderjahr zu nehmen ist.

Einerseits ist die Rechtsprechung des BAG zu berücksichtigen, nach der Urlaubsansprüche bei langer Arbeitsunfähigkeit aufgrund einer Erkrankung erst 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres verfallen. Andererseits ist die Rechtsprechung des BAG zu berücksichtigen, die den Arbeitgeber verpflichtet, den Arbeitnehmer in die Lage zu versetzen seinen Urlaub zu nehmen. Das bedeutet, der Arbeitgeber muss den Arbeitnehmer ausdrücklich auffordern, den Urlaub im laufenden Kalenderjahr oder bis spätestens zum 31.03. des Folgejahres zu nehmen. Die Aufforderung des Arbeitgebers ist auch in Fällen der Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers nicht entbehrlich.

Das LAG Hamm entschied, dass für den Fall, dass ein Arbeitnehmer länger als 15 Monate nach dem Ende des Urlaubsjahres arbeitsunfähig erkrankt ist, sich der Arbeitgeber darauf berufen darf, dass der Urlaubsanspruch erloschen ist – auch wenn er seiner Hinweisobliegenheit nicht nachgekommen ist. Grund dafür, dass der Urlaub nicht genommen werden konnte, war allein die Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers, nicht aber der fehlende Hinweis des Arbeitsgebers.

Da diese Frage bislang noch nicht durch das Bundesarbeitsgericht entschieden wurde, ist Revision eingelegt worden (9 AZR 85/22).

Simone Rohs, Düsseldorf

Simone Rohs

Düsseldorf

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Veröffentlichungen


Dr. Michael Bachner
Steine statt Brot? – Zur Sicherung des Grundsatzes der Präsenzsitzung in der Betriebsratspraxis
in: NZA 2022, S. 1024 ff.


Ariane Mandalka
Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz, Basiskommentar zum BEEG
Mitautoren: Dr. Bettina Graue, Daniel Wall
Bund Verlag, 7. Auflage. 2022

LAG Düsseldorf: Betriebsübergang – Widerspruchsrecht bei unvollständiger Information
In: ArbRAktuell 2022, S. 515

LAG Berlin-Brandenburg: Erholungsurlaub bei Wechselschicht mit mehr als 5 Arbeitstagen pro Woche
in: ArbRAktuell 2022, S. 348


Dr. Lars Weinbrenner
Im Grundsatz für die Präsenzsitzung – Kommentar, Betriebsrat und Recht 2022, S. 241

KAG Bayern: Zustimmungsverweigerung bei Eingruppierung
in: Zeitschrift für das öffentliche Arbeits- und Tarifrecht 2022, S. 154

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