Ausgabe 3/2023

Zurück zu unserer Website

Schwegler Anwälte Logo

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

sehr geehrte Damen und Herren,

das Thema Arbeitszeiterfassung ist in der Betriebsratspraxis als auch bei den Gerichten weiterhin aktuell. Nachdem der EuGH im Jahr 2019 bestimmt hat, dass die Mitgliedsstaaten der EU die Arbeitgeber verpflichten müssen, ein objektives, verlässliches und zugängliches System zur Arbeitszeiterfassung einzurichten und das BAG ein Initiativrecht des Betriebsrats hinsichtlich der Einführung eines Zeiterfassungssystems abgelehnt hat, ist nun zu klären, ob dem Betriebsrat bei der Ausgestaltung des Arbeitszeiterfassungssystems ein Initiativrecht zusteht. Das LAG München hat dieses bejaht. In der Rubrik „Ein-Blick“ stellen wir diese Entscheidung vor und bewerten diese im Kontext der bisherigen Rechtsprechung.

Mit der Frage, ob der Betriebsrat bei der Festsetzung der Vergütung eines freigestellten Betriebsratsmitglieds nach § 37 Abs. 4 Satz 1 BetrVG ein Mitbestimmungsrecht hat, hat sich das LAG Baden-Württemberg auseinandergesetzt. In der Rubrik „Betriebsräte“ besprechen wir diese aktuelle Entscheidung.

In der Rubrik „Arbeitnehmer“ stellen wir eine praxisrelevante Entscheidung des BAG zum Thema variable Vergütung vor. Konkret geht es um die Frage, ob der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz auch dann anzuwenden ist, wenn der Arbeitgeber die Zahlung einer variablen Vergütung unter einen Freiwilligkeitsvorbehalt stellt.

Neben den oben genannten Entscheidungen haben wir weitere interessante Gerichtsentscheidungen zum Individual- wie auch zum Kollektivarbeitsrecht in Kurzform aufbereitet.

Wir wünschen viel Vergnügen bei der Lektüre des Newsletters.

Eure/Ihre
schwegler rechtsanwälte

Inhalt

Ein-Blick

Betriebsrat hat Initiativrecht bei Ausgestaltung der Arbeitszeiterfassung
lesen ➔

Betriebsräte

Kein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats bei der Festsetzung der Vergütung eines freigestellten Betriebsratsmitglieds nach § 37 Abs. 4 Satz 1 BetrVG
lesen ➔

Betriebsräte

Kurzüberblick über Entscheidungen

  • Anspruch auf tarifliche Eingruppierung bei künftigen Einstellungen/Versetzungen

  • Unzulässige Begünstigung eines Betriebsratsvorsitzenden durch Stellung eines Dienstwagens

  • Fehler bei vereinbarter interner Ausschreibungsfrist

lesen ➔

Arbeitnehmer

Gleichbehandlungsgrundsatz gilt auch bei freiwilliger variabler Vergütung
lesen ➔

Arbeitnehmer

Kurzüberblick über Entscheidungen

  • Kündigung wegen Äußerung in einer Chatgruppe

  • Offene Videoüberwachung – Verwertungsverbot

  • Annahmeverzug – Leistungswille – Prozessbeschäftigung

  • Tarifliche Nachtarbeitszuschläge – Gleichheitssatz –Zuschlagshöhe – regelmäßige Nachtarbeit – unregelmäßige Nachtarbeit – Tarifauslegung

lesen ➔

Veröffentlichungen

lesen ➔

Impressum

lesen ➔

Ein-Blick

Betriebsrat hat Initiativrecht bei Ausgestaltung der Arbeitszeiterfassung

EuGH, Entscheidung vom 14.05.2019 – C 55/18
BAG, Beschluss vom 13.09.2022 – 1 ABR 22/21
LAG München, Beschluss vom 22.05.2023 – 4 TaBV 24/23
VG Lüneburg vom 02.05.2023 – 3 A 146/22

Das LAG München hat am 22.05.2023 entschieden – 4 TaBV 24/23, dass dem Betriebsrat bei der Frage der Ausgestaltung der Arbeitszeiterfassung ein Initiativrecht zusteht.


I. Kontext der Entscheidung

Die Mitbestimmung des Betriebsrates in den sozialen Angelegenheiten nach § 87 BetrVG setzt voraus, dass es keine abschließende gesetzliche (oder tarifvertragliche) Regelung gibt. Diesen Grundsatz bestätigte das BAG mit seiner Entscheidung vom 13.09.2022 – 1 ABR 22/21, wonach Arbeitgeber bereits vom Gesetz zur Arbeitszeiterfassung verpflichtet seien. Aus diesem Grund lehnte das BAG ein Initiativrecht des Betriebsrats hinsichtlich der Einführung eines Zeiterfassungssystems ab. Diese Entscheidung sorgte für Aufsehen, konnte man die verkürzten Darstellungen (insbesondere von Arbeitgeberseite) doch so verstehen, als wäre die Mitbestimmung des Betriebsrates bei der Arbeitszeit deutlich eingeschränkt worden. Allerdings hatte das BAG selbst in seiner Entscheidung darauf hingewiesen, dass es lediglich um die Frage ging, „ob“ der Arbeitgeber vom Betriebsrat zur Arbeitszeiterfassung verpflichtet werden könne. Das BAG betonte aber, dass dem Betriebsrat sehr wohl ein Initiativrecht hinsichtlich der Ausgestaltung des Arbeitszeiterfassungssystems (also dem „Wie“ der Arbeitszeiterfassung) zustehe.


II. Hintergrund: Die Entwicklung der Rechtsprechung und Rechtslage

Der EuGH hatte bereits am 14.05.2019 entschieden – C 55/18, dass die Mitgliedsstaaten der EU die Arbeitgeber verpflichten müssen, ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzurichten, mit dem die täglich geleistete Arbeitszeit der Beschäftigten gemessen werden kann. Hierzu sah das deutsche Recht bislang in § 16 Abs. 2 ArbZG nur vor, dass der Arbeitgeber die werktägliche Arbeitszeit über acht Stunden sowie die gesamte Arbeitszeit an Sonn- und Feiertagen aufzeichnen müsse und diese Aufzeichnungen aufzubewahren sind. Diese Regelung wurde überwiegend als unzureichend angesehen.

Der EuGH und insbesondere das BAG haben nun klargestellt, dass eine Erfassung und Dokumentation von Beginn, Ende und Lage der Arbeitszeit schon jetzt zwingend erforderlich ist. Dies bedeutet, dass die Arbeitszeit ab der Stunde Null zu erfassen ist und nicht erst ab einer Arbeitszeit von acht Stunden und auch die Aufzeichnung von Pausenzeiten umfasse sowie des Beginns und Endes der Arbeitszeit, um die Einhaltung der Ruhezeiten überprüfen zu können. Sowohl der EuGH wie auch das BAG haben in ihren Entscheidungen also betont, dass Arbeitgeber grundsätzlich verpflichtet sind, jede Arbeitszeit zu erfassen. Dabei (und das ist ein häufiges Missverständnis im Zusammenhang mit der Arbeitszeiterfassung) kommt es nicht darauf an, ob es sich bei der erfassten Arbeitszeit auch um vergütungspflichtige Arbeitszeit handeln muss. Insbesondere der EuGH hat stets betont, dass die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung dem Sinn und Zweck der Arbeitszeitrichtlinie dienen soll. Dies ist aber nicht die Frage der „Vergütungspflicht“, sondern der Schutz der Beschäftigten vor Überlastung und damit primär der „Gesundheitsschutz der Beschäftigten“.


III. Die Entscheidung des LAG München vom 22.05.2023

Das LAG München hat in seinem Beschluss vom 22.05.2023 – 4 TaBV 24/23 – bestätigt, dass dem Betriebsrat bei der Ausgestaltung eines Systems zur Arbeitszeiterfassung ein Initiativrecht zusteht. Diesem Initiativrecht stehe auch nicht entgegen, dass ein Arbeitgeber ggf. erst noch die Entwicklung der gesetzlichen Regelungen abwarten wolle. Auch könne der Arbeitgeber keine Vorentscheidung über die Art der Arbeitszeiterfassung treffen, denn gerade die Entscheidung über die beste Art der Zeiterfassung sei regelmäßig von der Mitbestimmung der Betriebsräte umfasst.


IV. Bedeutung für Betriebsräte

Betriebsräte sollten überprüfen, für welche Beschäftigtengruppen bereits Regelungen zur Arbeitszeiterfassung bestehen. Ebenso brauchen sie sich nicht von Arbeitgebern vertrösten lassen, weil diese die Entwicklung der gesetzlichen Regelungen abwarten wollen. Ggf. sind vor dem Hintergrund der noch ausstehenden gesetzlichen Regelungen Vereinbarungen im weiteren Verlauf erneut zu überprüfen und anzupassen (ähnlich wie bei der Einführung der DSGVO). Der Arbeitgeber kann auch nicht die alleinige Entscheidung darüber treffen mittels welches Systems er die Arbeitszeit erfasst. Ausgenommen vom Mitbestimmungsrecht sind daher auch lediglich die Arbeitszeiten leitender Angestellter. Die Arbeitszeiten von Beschäftigten in atypischen Beschäftigungsverhältnissen (z.B. im Außendienst/Home-Office/Telearbeit) sind also zu erfassen und unterliegen damit grundsätzlich auch der Mitbestimmung, was die Art und Weise der Erfassung betrifft. Gleiches gilt für Beschäftigte mit Vertrauensarbeitszeit.



V. Rechtsprechung zur Arbeitszeit beachten

Dies bedeutet auch, dass Betriebsräte Rechtsprechung zum Thema „Arbeitszeit“ insgesamt im Auge behalten sollten.

Denn immer dann, wenn „Einsätze“ oder „Tätigkeiten“ als „Arbeitszeiten“ zu bewerten sind, so unterliegen diese grundsätzlich der Erfassungspflicht und damit der Mitbestimmung des Betriebsrates, wie diese Zeiten zu erfassen sind. Dies kann auch zur Folge haben, dass je nach Beschäftigungsart Tätigkeiten unterschiedlich bewertet werden können. In diesem Zusammenhang sei beispielsweise auf die Entscheidung des VG Lüneburg vom 02.05.2023 – 3 A 146/22 – im Zusammenhang mit Reisezeiten hinzuweisen:

Das VG Lüneburg hatte entschieden, dass Fahrten mit der Bahn zur Arbeitszeit der Mitarbeiter eines Speditionsunternehmens gehören, wenn diese Bahnfahrten notwendig sind, um die zu überführenden Fahrzeuge abzuholen. Ob Bahnfahrten als Arbeitszeit zu qualifizieren sind, hängt laut BAG aber davon ab, ob es sich um eine Reise- oder Wegezeit handelt. Die Wegezeit betrifft danach die Strecke, die Beschäftigte täglich vom Wohnort zur regelmäßigen Arbeitsstätte zurücklegen. Diese wird nicht als Arbeitszeit qualifiziert und ist demnach auch nicht zu erfassen. Reisezeiten sind hingegen die Zeiten, die Beschäftigte auf Weisung des Arbeitgebers aufwenden, um sich an einen Ort außerhalb des gewöhnlichen Arbeitsplatzes zu bewegen. Zählt die Reisezeit also zu den vertraglich geschuldeten Leistungspflichten des Arbeitnehmers, handelt es sich grundsätzlich um Arbeitszeit. Allerdings ist hier in der Regel eine Prüfung des konkreten Einzelfalls erforderlich. Hierfür wendet das BAG die von ihm entwickelte Beanspruchungstheorie an, wonach Reisezeiten dann als Arbeitszeit eingestuft werden, wenn sie mit einer dem Gesundheitsschutz zuwiderlaufenden Belastung des Arbeitnehmers einhergehen. So seien Bahnfahrten so lange nicht als Arbeitszeit zu qualifizieren, wie der Arbeitnehmer während der Reise keine zusätzlichen Tätigkeiten für den Arbeitgeber erbringt, etwa E-Mails abarbeitet. Danach wären die Bahnfahrten (da die Mitarbeiter grundsätzlich keine weiteren Tätigkeiten erbringen mussten) nicht als Arbeitszeit zu bewerten gewesen.

Das VG hat sich aber an der europarechtlichen Begriffsbestimmung orientiert. Für die europarechtliche Begriffsbestimmung kommt es maßgeblich darauf an, inwieweit der Freizeitwert des Arbeitnehmers von der geforderten Tätigkeit betroffen ist. Sofern der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt oder Aufgaben wahrnimmt, sei daher auch die Anreise zum und die Abreise vom Überführungsort als Arbeitszeit im Sinne des § 2 Abs. 1 ArbZG zu werten. Es bleibt abzuwarten, ob das BAG (auch unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EuGH) seine Rechtsprechung zum Arbeitszeitbegriff anpasst oder sogar wandelt.

Diese Entscheidungen sind dann aber im Rahmen von Vereinbarungen zur Arbeitszeiterfassung entsprechend zu berücksichtigen bzw. bestehende Regelungen anzupassen.

Anna-Lena Trümner, Oldenburg

Anna-Lena Trümner

Oldenburg

Mehr zur Person

▲ zum Inhaltsverzeichnis ▲

Betriebsräte

Kein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats bei der Festsetzung der Vergütung eines freigestellten Betriebsratsmitglieds nach § 37 Abs. 4 Satz 1 BetrVG

LAG Baden-Württemberg, Beschluss vom 26.05.2023 – 12 TaBV 1/23

Der Beitrag beschäftigt sich mit der Frage, ob der Betriebsrat nach § 99 Abs. 1 BetrVG zu beteiligen ist, wenn die Arbeitgeberin beabsichtigt, die Vergütung eines freigestellten Betriebsratsmitglieds herabzusetzen und nach § 37 Abs. 4 Satz 1 BetrVG festzusetzen.


I. Sachverhalt

Die Arbeitgeberin unterhält einen Betrieb mit ca. 500 Arbeitnehmern und 60 Auszubildenden. Für den Betrieb wurde ein elfköpfiger Betriebsrat gewählt. Der Vorsitzende des Betriebsrats ist seit 1986 bei der Arbeitgeberin beschäftigt und wurde zunächst als Dreher und in der Folgezeit als Schlosser eingesetzt. Seit 1994 ist er im Betriebsrat und seit 1998 vollständig von der Erbringung der vertraglichen Arbeitsleistung freigestellt. Seit 2002 ist er Vorsitzender des Betriebsrats. Zu Beginn der Freistellung wurde er zunächst weiterhin unter Bezugnahme auf die tarifliche Vergütungsgruppe 8/10 vergütet. Seit 2002 wurden ihm zusätzliche Zulagen gezahlt, sodass er eine tarifliche Vergütung in Höhe von rund 4.200 € brutto/Monat erhielt. Seit 2006 wurde der Betriebsratsvorsitzende als außertariflicher Mitarbeiter geführt, seine Vergütung wurde stetig angehoben. Im Jahr 2021 verdiente er schließlich rund 13.600 € brutto/Monat. Die Arbeitgeberin hat die Vergütung in regelmäßigen Abständen überprüft. Im Jahr 2022 wurde dem Betriebsratsvorsitzenden mitgeteilt, dass seine Vergütung auf einen Betrag in Höhe von rund 6.300 € brutto/Monat entsprechend der tariflichen Vergütungsgruppe 8/25, die wiederum der Eingruppierung der meisten Vergleichsarbeitnehmer entspricht, angepasst wird. Die Anpassung wurde entsprechend umgesetzt, ohne dass der Betriebsrat beteiligt wurde.

Hiergegen wendet sich der Betriebsrat. Er vertritt die Auffassung, vor der Umsetzung der Vergütungsanpassung habe das Verfahren nach § 99 Abs. 1 Satz 1 BetrVG durchgeführt und die Zustimmung des Betriebsrats eingeholt bzw. gerichtlich ersetzt werden müssen.

Das Arbeitsgericht Mannheim hat den Antrag des Betriebsrates als unbegründet zurückgewiesen.


II. Entscheidung

Das LAG hat die Entscheidung des Arbeitsgerichts bestätigt.

Bei der Bestimmung der Vergütung eines freigestellten Betriebsratsvorsitzenden handelt es sich „nur“ um einen Akt der Rechtsanwendung gemäß § 37 Abs. 4 Satz 1 BetrVG. Eine Ein- oder Umgruppierung iSd. § 99 Abs. 1 Satz 1 BetrVG liegt nach Ansicht des Gerichts nicht vor.

Das Mitbestimmungsrecht des § 99 Abs. 1 Satz 1 BetrVG soll sicherstellen, dass die Bewertung der Tätigkeit des Arbeitnehmers und deren Zuordnung zu einer Entgeltgruppe möglichst zutreffend sind. Im vorliegenden Fall erbringt der freigestellte Betriebsratsvorsitzende seit Jahren keine vertraglichen Tätigkeiten. Eine Bewertung und Zuordnung scheiden bereits aus diesem Grund aus.

Das Mitbestimmungsrecht folgt auch nicht daraus, dass für die Vergütungsfestsetzung die Eingruppierung von Vergleichspersonen herangezogen wurde. Eine solche mittelbare Eingruppierung reicht nicht aus, um das Mitbestimmungsrecht aus § 99 Abs. 1 Satz 1 BetrVG auszulösen. Der Mitbestimmung bei personellen Einzelmaßnehmen ist immanent, dass sie sich auf einen „den einzelnen Arbeitnehmer“ betreffenden Gestaltungs- und Rechtsanwendungsakt bezieht. Gegenstand der Ein- oder Umgruppierung ist stets eine konkrete personenbezogene Maßnahme und nicht die Durchschnittsbetrachtung von verschiedenen Eingruppierungsvorgängen.

Das Mitbestimmungsrecht verfolgt zudem den Zweck, eine einheitliche und gleichmäßige Anwendung der kollektiven Vergütungsordnung in gleichen und vergleichbaren Fällen zu gewährleisten. Dieser Zweck wurde im vorliegenden Fall bereits dadurch erreicht, dass der Betriebsrat in der Vergangenheit bei den Eingruppierungen der Vergleichsarbeitnehmer mitbestimmt hat. Für eine Wiederholung dieser Eingruppierungsvorgänge besteht im Rahmen des § 37 Abs. 4 Satz 1 BetrVG kein Bedürfnis.

Nach Auffassung des LAG besteht – durch die Nichtbeteiligung des Betriebsrats – auch keine Schutzlücke für freigestellte Betriebsratsmitglieder. Das Mitbestimmungsrecht verfolgt einzig das kollektive Interesse an der innerbetrieblichen Lohngerechtigkeit und der Stellung des Arbeitnehmers innerhalb der kollektiven Vergütungsordnung, die allein auf der Tätigkeit des Arbeitnehmers basiert. Die Regelung dient nicht dem Schutz der individuellen Vergütung eines Arbeitnehmers. Ob der Arbeitgeber die Zuordnung nach § 37 Abs. 4 Satz 1 BetrVG zutreffend vorgenommen hat, ist für die Frage, ob ein Mitbestimmungsrecht nach § 99 Abs. 1 Satz 1 BetrVG besteht, nicht relevant.

Die Mitbestimmung des Betriebsrats nach § 99 Abs. 1 Satz 1 BetrVG lebt dann wieder auf, wenn nach Beendigung der Freistellung und Wiederaufnahme einer vertraglichen Tätigkeit eine Zuordnung zu einer Entgeltgruppe vorgenommen wird.

Nicht relevant für die Frage, ob ein Mitbestimmungsrecht besteht, ist das Argument, dass den handelnden Personen der Arbeitgeberin eine Strafbarkeit drohe, falls man sie auf die Durchführung des Verfahrens nach § 99 f. BetrVG verweise. Auch eine mögliche Verlagerung von an sich im Urteilsverfahren zu klärender Streitfragen schließt Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats – soweit sie bestehen – nicht aus.

Das LAG hat die Rechtsbeschwerde wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Frage nach dem Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats im Rahmen der Entgeltbestimmung gemäß § 37 Abs. 4 Satz 1 BetrVG bei Vorliegen einer kollektiven Vergütungsordnung zugelassen.


III. Fazit

Die Entscheidung des LAG überzeugt nicht.

Der Umstand, dass die Arbeitgeberin die Vergütung freigestellter Betriebsratsmitglieder nach § 37 Abs. 4 Satz 1 BetrVG zu bestimmen hat, kann nicht dazu führen, dass dadurch das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 99 Abs. 1 BetrVG ausgeschlossen wird. Schließlich hat die Arbeitgeberin den Betriebsratsvorsitzenden aus dem Kreis der außertariflichen Arbeitnehmer herausgenommen und erneut der tariflichen Vergütungsordnung zugeordnet. Ob eine solche Zuordnung zutreffend erfolgt ist, muss jedoch wie bei allen anderen Mitarbeitern auch durch den Betriebsrat mitbeurteilt werden. Anderenfalls droht, dass etwaig in der Vergangenheit gemachte Eingruppierungsfehler der Vergleichsarbeitnehmer zu Lasten freigestellter Betriebsratsmitglieder fortgeschrieben werden. Aus diesem Grund muss jedenfalls auch eine „mittelbare“ Eingruppierung ausreichen, um das Mitbestimmungsrecht auszulösen. Es bleibt abzuwarten, wie das BAG im Falle eines Rechtsbeschwerdeverfahrens entscheiden wird.

Der betroffene Betriebsratsvorsitzende hat sich auch individualrechtlich mit einer Klage gegen die vorgenommene Vergütungskürzung gewendet. Das Arbeitsgericht Mannheim (Az. 7 Ca 139/22) hat die Klage abgewiesen. Die hiergegen gerichtete Berufung ist beim LAG Baden-Württemberg unter dem Az. 19 Sa 34/23 anhängig.

Über das Urteil des BGH vom 10.01.2023, in dem sich dieser mit der Vergütung von Betriebsratsmitgliedern auseinandergesetzt hatte – 6 StR 133/22, haben wir in unserem Newsletter 1/2023 https://www.schwegler-rae.de/newsletter/059-Newsletter-1-2023.html#Anker_Betriebsr%C3%A4te_2 berichtet.

Katharina Warczinski, Berlin

Katharina Warczinski

Berlin

Mehr zur Person

▲ zum Inhaltsverzeichnis ▲

Betriebsräte

Anspruch auf tarifliche Eingruppierung bei künftigen Einstellungen/Versetzungen
BAG, Beschluss vom 14.02.2023 – 1 ABR 9/22

Im vom BAG zu entscheidenden Fall stritten die Parteien über die Verpflichtung des Arbeitgebers zur Eingruppierung von Arbeitnehmern gem. ERA-Abkommen (NRW-Metalltarif). Der Arbeitgeber war bis zum 31.12.2020 Mitglied eines nordrhein-westfälischen Metallarbeitgeberverbandes. Laut BAG folgt aus § 101 BetrVG kein Anspruch des Betriebsrats gegen den Arbeitgeber, bei künftig erst noch erfolgenden Einstellungen oder Versetzungen von Arbeitnehmern eine Ein- oder Umgruppierungsentscheidung zu treffen sowie ein hierauf bezogenes Beteiligungs- und gegebenenfalls Zustimmungsersetzungsverfahren durchzuführen. Der Anspruch ergibt sich jedoch aus § 23 Abs. 3 BetrVG, da der Arbeitgeber im vorliegenden Fall durch die stetige Nichtbeteiligung des Betriebsrats bei der erforderlichen Eingruppierung von Arbeitnehmern in grober Weise seine betriebsverfassungsrechtlichen Pflichten verletzt hat.

Der Arbeitgeber ist trotz seines Austritts aus dem Metallarbeitgeberverband auch weiterhin an das ERA-Abkommen (NRW-Metalltarif) gebunden. Nach § 3 Abs. 3 TVG bleibt die Tarifgebundenheit bestehen, bis der Tarifvertrag endet. Unerheblich ist ebenso, dass das separate Entgeltabkommen (EA) zwischenzeitlich von der Gewerkschaft gekündigt wurde, da der Ablauf eines Entgeltabkommens (EA) keine Änderung des ERA-Abkommens (NRW-Metalltarif) bewirkt. Das BAG stellte in diesem Zusammenhang noch einmal ausdrücklich klar, dass es sich bei den Tarifverträgen um gesondert vereinbarte Regelwerke handelt, die in ihrem Bestand und ihrer Geltung voneinander unabhängig sind.


Unzulässige Begünstigung eines Betriebsratsvorsitzenden durch Stellung eines Dienstwagens
LAG Nürnberg, Urteil vom 05.04.2022 – 7 Sa 238/21

Der Arbeitgeber kündigte den bestehenden Überlassungsvertrag hinsichtlich eines Dienstwagens mit dem Betriebsratsvorsitzenden unter Hinweis auf § 78 S. 2 BetrVG. Die Überlassung von Dienstwagen richtete sich u. a. nach einer Betriebsvereinbarung, die zusätzlich zu berechtigten Mitarbeitergruppen ebenso die Überlassung an den Betriebsratsvorsitzenden bei Bedarf vorsah.

Das LAG Nürnberg kam zu dem Ergebnis, dass die Betriebsvereinbarung – soweit sie eine Überlassung an den Betriebsratsvorsitzenden vorsieht – nichtig ist und wies die Klage des Betriebsratsvorsitzenden gegen die Kündigung des Überlassungsvertrages ab. Bei der Überlassung eines Dienstwagens auch zur privaten Nutzung ausschließlich aufgrund des Betriebsratsamtes handelt es sich um eine Begünstigung, die zu untersagen ist. Im Zweifel muss das entsprechende Betriebsratsmitglied also beweisen, dass der Dienstwagen zur Erfüllung der arbeitsvertraglichen Aufgaben und nicht nur aufgrund des Betriebsratsamtes überlassen worden ist.


Fehler bei vereinbarter interner Ausschreibungsfrist
ArbG Köln, Beschluss vom 13.01.2023 – 23 BV 67/22

Im Unternehmen existierte eine Gesamtbetriebsvereinbarung, in der festgehalten wurde, dass jeder Arbeitsplatz unabhängig von einer externen Ausschreibung auch intern mit einer Ausschreibungsfrist von vier Wochen auszuschreiben ist. Der Betriebsrat verweigerte die Zustimmung, da gegen die Gesamtbetriebsvereinbarung zur Durchführung von internen Ausschreibungen verstoßen wurde. Der Arbeitgeber hat dem Betriebsrat die entsprechende Ausschreibung erst ca. drei Wochen vor Ende der Ausschreibungsfrist zugeleitet.

Der Verstoß gegen die in der Betriebsvereinbarung geregelten Fristen bezüglich der internen Ausschreibung berechtigt den Betriebsrat laut dem ArbG Köln zum Widerspruch. Der Arbeitgeber ist verpflichtet, sich an die bestehenden Regeln/Vereinbarungen zur internen Ausschreibung zu halten. Die Gesamtbetriebsvereinbarung begründet nicht nur die Pflicht zur internen Ausschreibung, sondern regelt insbesondere auch das Verfahren der internen Ausschreibung.

Stefan Dieker, Düsseldorf

Stefan Dieker

Düsseldorf

Mehr zur Person

▲ zum Inhaltsverzeichnis ▲

Arbeitnehmer

Gleichbehandlungsgrundsatz gilt auch bei freiwilliger variabler Vergütung

BAG, Urteil vom 26.4.2023 – 10 AZR 137/22


I. Orientierungssatz

Der Umstand, dass die Leistung einer Sondervergütung durch den Arbeitgeber freiwillig erfolgt und in den Vorjahren mit einem Freiwilligkeitsvorbehalt versehen war, steht der Bindung an den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz nicht entgegen.


II. Sachverhalt

Die Parteien streiten im Rahmen einer Stufenklage über eine Auskunft zu den Bemessungsgrundlagen für eine Zahlung aus einem Programm zur Beteiligung an der Unternehmensentwicklung und die Auszahlung der sich ergebenden Beträge. Der Kläger war von November 2014 bis zu seiner Freistellung im November 2016 bei der Beklagten als Leiter des Bereichs Finanzen und Controlling tätig und gehörte zum Kreis der leitenden Führungskräfte. Die Beklagte gewährt Führungskräften eine variable Vergütung, wobei sie sich in den Programmbedingungen vorbehalten hat, dass es sich bei der Zahlung um eine freiwillige Leistung handle, auf die auch bei wiederholter Zahlung weder dem Grunde noch der Höhe nach ein Rechtsanspruch für die Zukunft begründet werde und bei der in jedem Jahr erneut entschieden werde, ob und in welcher Höhe einer inländischen Führungskraft eine Leistung gewährt werde.

Für die Geschäftsjahre 2015 und 2016 beteiligte die Beklagte den Kläger an der variablen Vergütung. In der Zusage für das Geschäftsjahr 2015 war wie in den Begleitschreiben zur Leistungsgewährung für die Geschäftsjahre 2015 und 2016 der Hinweis enthalten, dass es sich um eine freiwillige Leistung handle, auf die dem Grund und der Höhe nach auch bei mehrmaliger Gewährung kein Rechtsanspruch für die Zukunft bestehe.

Ende 2016 stellte die Beklagte den Kläger frei. Im Folgenden kam es zum Ausspruch mehrerer Kündigungen, die im Ergebnis nicht zu einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses führten. In den Geschäftsjahren 2017 und 2018 erhielt der Kläger keine variable Vergütung für Führungskräfte.

Mit seiner Klage verlangte der Kläger im Weg der Stufenklage Auskunft über die Bemessungsgrundlagen für die Zahlungen der freiwilligen variablen Vergütung für die Geschäftsjahre 2017 und 2018 sowie Zahlung der von ihm nach Auskunftserteilung noch zu beziffernden Ausschüttungsbeträge. Er behauptet, die Beklagte habe in den Jahren 2017 und 2018 nahezu allen Führungskräften, zumindest jedoch 13 von ihm namentlich benannten Führungskräften, die Teilnahme an der variablen Vergütung zugesagt. Da er ebenfalls zum Kreis der leitenden Führungskräfte gehöre, sei er daher zu Unrecht von den Leistungen nach diesem Programm ausgenommen worden.

Das ArbG gab der Klage statt, das LAG wies sie ab. Die Revision des Klägers beim BAG hatte Erfolg und führte zur Zurückverweisung an das LAG.


III. Entscheidung

Das BAG stellte klar, dass der Kläger den Auskunfts- und den (noch unbezifferten) Leistungsantrag zulässig im Wege der Stufenklage geltend machen kann. Seinen Auskunftsanspruch kann der Kläger auf den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz stützen, so das BAG. Dieser gebietet dem Arbeitgeber, seine Arbeitnehmer oder Gruppen von Arbeitnehmern, die sich in vergleichbarer Lage befinden, bei Anwendung einer selbst gesetzten Regel gleich zu behandeln. Er verbietet nicht nur die willkürliche Schlechterstellung einzelner Arbeitnehmer innerhalb einer Gruppe, sondern auch eine sachfremde Gruppenbildung. Trotz des Vorrangs der Vertragsfreiheit ist der Gleichbehandlungsgrundsatz auch bei der Zahlung der Arbeitsvergütung anwendbar, wenn diese durch eine betriebliche Einheitsregelung generell angehoben wird oder der Arbeitgeber die Leistung nach einem erkennbaren und generalisierenden Prinzip gewährt, indem er Voraussetzungen oder Zwecke festlegt. Die Begünstigung einzelner Arbeitnehmer erlaubt noch nicht den Schluss, diese bildeten eine Gruppe. Eine Gruppenbildung liegt erst dann vor, wenn die Besserstellung nach bestimmten Kriterien vorgenommen wird, die bei allen Begünstigten vorliegen. Der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz ist auch dann anwendbar, wenn der Arbeitgeber – nicht auf besondere Einzelfälle beschränkt – nach Gutdünken oder nach nicht sachgerechten oder nicht bestimmbaren Kriterien Leistungen erbringt.

Das BAG wies darauf hin, dass die Darlegungs- und Beweislast für einen Verstoß gegen den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz grundsätzlich beim anspruchstellenden Arbeitnehmer liegt. Hierfür muss er vergleichbare Arbeitnehmer benennen, die ihm gegenüber vorteilhaft behandelt werden. Ist dies erfolgt, muss der Arbeitgeber – wenn er anderer Auffassung ist – darlegen, wie groß der begünstigte Personenkreis ist, wie er sich zusammensetzt, wie er abgegrenzt ist und warum der klagende Arbeitnehmer nicht dazugehört. Diese Darlegungslast hat der Kläger durch die Behauptung, zu den inländischen Führungskräften zu gehören, welche nach dem Programm eine variable Vergütung erhalten, den Nachweis des Erhalts einer variablen Vergütung aus dem Programm für die Geschäftsjahre 2015 und 2016 sowie durch die Benennung von 13 vergleichbaren Personen, die für die streitgegenständlichen Geschäftsjahre 2017 und 2018 die variable Vergütung erhalten haben, erfüllt.

Der Vortrag der Beklagten, es handele sich bei der variablen Vergütung um eine individuelle Zusage, die stets nur für ein Geschäftsjahr gewährt werde und zudem um eine freiwillige Leistung, auf die auch bei wiederholter Zahlung weder dem Grund noch der Höhe nach ein Rechtsanspruch besteht, reicht nicht aus, um die Anwendbarkeit des Gleichbehandlungsgrundsatzes auszuschließen. Die Wirksamkeit des Freiwilligkeitsvorbehalts zugunsten der Beklagten unterstellt, wird eine Bindung an den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz durch einen in den Vorjahren erklärten Freiwilligkeitsvorbehalt für das Jahr der Zahlung bzw. Leistung nicht ausgeschlossen.

Da das BAG auf der Grundlage der bisherigen tatsächlichen Feststellungen des LAG den Rechtsstreit nicht endentscheiden kann, hat es das Urteil des LAG aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LAG zurückverwiesen.


IV. Bedeutung für die Praxis

In der Praxis hat der Arbeitgeber die Bedingungen seiner langfristigen variablen Vergütungsprogramme häufig so gestaltet, dass ihm in jedem Jahr die freie Entscheidung darüber verbleibt, ob und in welchem Umfang er die variable Vergütung zusagt (Freiwilligkeitsvorbehalt). Hierdurch will er eine Bindung an (recht teure) langfristige variable Vergütungsprogramme für die Zukunft vermeiden.

Das BAG lässt in seiner Entscheidung offen, ob ein solcher Freiwilligkeitsvorbehalt überhaupt wirksam ist. Es unterstellt dessen Wirksamkeit hier zugunsten der Beklagten und kommt damit zu der praxisrelevanten Rechtsfrage, ob ein Arbeitnehmer einen Anspruch aus dem arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz haben kann, wenn es sich bei der von ihm begehrten Leistung um eine freiwillige Leistung handelt, auf die auch bei wiederholter Zahlung weder dem Grund noch der Höhe nach ein Rechtsanspruch begründet wird. Diese Frage bejaht das BAG und stellt klar, dass ein Freiwilligkeitsvorbehalt keine willkürliche, also nicht an sachlichen Kriterien ausgerichtete, Nichtgewährung einer variablen Vergütung gegenüber einzelnen Arbeitnehmern ermöglicht. Entscheidet sich der Arbeitgeber grundsätzlich für die Gewährung der variablen Vergütung, muss er sich bei seiner Auswahlentscheidung an den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz halten.

Die Darlegungs- und Beweislast für einen Verstoß gegen den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz trägt grundsätzlich der anspruchstellende Arbeitnehmer. Somit hat er die Voraussetzungen des Anspruchs auf Gleichbehandlung darzulegen und vergleichbare Arbeitnehmer zu nennen, die ihm gegenüber vorteilhaft behandelt wurden. Hat er dies getan, muss der Arbeitgeber diesen Behauptungen zur Gruppenbildung substantiiert entgegentreten und - wenn er den Kreis der vergleichbaren Arbeitnehmer anders beurteilt - seinerseits darlegen, wie groß der begünstigte Personenkreis ist, wie er sich zusammensetzt, wie er abgegrenzt ist und warum der klagende Arbeitnehmer nicht dazugehört.

Ariane Mandalka, Frankfurt

Ariane Mandalka

Frankfurt/Main

Mehr zur Person

▲ zum Inhaltsverzeichnis ▲

Arbeitnehmer

Kündigung wegen Äußerung in einer Chatgruppe
BAG, Beschluss vom 24.08.2023 – 2 AZR 17/23

Der Inhalt ausgetauschter Nachrichten in einer privaten Chatgruppe von Betriebsangehörigen, der dem Arbeitgeber bekannt wird, darf zur Begründung einer Kündigung eines Mitglieds der privaten Chatgruppe nicht herangezogen werden, wenn der betroffene Arbeitnehmer auf die Vertraulichkeit der privaten Chatgruppe vertrauen durfte.

Eine solche Vertraulichkeitserwartung ist aus Sicht des BAG jedoch nur dann berechtigt, wenn die Mitglieder einer Chatgruppe den besonderen persönlichkeitsrechtlichen Schutz einer Sphäre vertraulicher Kommunikation in Anspruch nehmen können.

Sind beleidigende und menschenverachtende Äußerungen über Betriebsangehörige Gegenstand der Nachrichten, bedarf es einer besonderen Darlegung durch den gekündigten Arbeitnehmer, warum er berechtigterweise erwarten konnte, dass der Inhalt der Nachrichten von keinem Gruppenmitglied an Dritte einschließlich dem Arbeitgeber weitergegeben werde.


Offene Videoüberwachung – Verwertungsverbot
BAG, Beschluss vom 29.06.2023 – 2 AZR 296/22

Die Annahme eines verfahrensrechtlichen Verwertungsverbots ist bei einer offenen Überwachungsmaßnahme (Videoüberwachung) im Fall einer vorsätzlich begangenen Pflichtverletzung eines Arbeitnehmers in Form eines Arbeitszeitbetrugs in der Regel nicht geboten.

Ein Arbeitnehmer muss hinnehmen, dass die bei einer offenen Überwachung gewonnenen Bildsequenzen, die ihn nach Beginn der Arbeitszeit beim Verlassen des Betriebsgeländes zeigen, in einem Kündigungsschutzprozess als "Tatbeweis" gegen ihn verwendet werden.

Die Betriebsparteien haben keine Befugnis, in das gerichtliche Verfahren einzugreifen, indem sie Verwertungsverbote in Betriebsvereinbarungen zu Überwachungseinrichtungen vereinbaren. Diese Befugnis steht allein dem Gesetzgeber zu.


Annahmeverzug – Leistungswille – Prozessbeschäftigung
BAG, Beschluss vom 29.03.2023 – 5 AZR 255/22

Der Arbeitgeber, der das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund nach § 626 Abs. 1 BGB verhaltensbedingt fristlos kündigt, weil ihm die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht länger zumutbar erscheint, kann in der Regel – ohne von einem arbeitsgerichtlichen Urteil dazu gezwungen zu sein – nicht ernsthaft den weiteren Vollzug des Arbeitsverhältnisses anbieten, da er damit die behauptete Unzumutbarkeit der Weiterbeschäftigung widerlegen würde. Mithin ist ein solches Angebot nicht ernsthaft. Lehnt der Arbeitnehmer das Angebot ab, ist kein Fall eines fehlenden Leistungswillens im Sinne des § 297 BGB anzunehmen. Bei einer verhaltensbedingten fristlosen Kündigung ist die vorläufige Weiterbeschäftigung beim Arbeitgeber in der Regel keine zumutbare Weiterbeschäftigung im Sinne des § 11 Nr. 2 KSchG.


Tarifliche Nachtarbeitszuschläge – Gleichheitssatz – Zuschlagshöhe – regelmäßige Nachtarbeit – unregelmäßige Nachtarbeit – Tarifauslegung
BAG, Beschluss vom 22.02.2023 – 10 AZR 332/20

Tarifvertragsparteien sind nicht an die von der Rechtsprechung entwickelten Regelwerte für gesetzliche Nachtarbeitszuschläge gebunden. Eine tarifvertragliche Regelung, die für regelmäßige Nachtarbeit 20 % und für unregelmäßige Nachtarbeit 50 % Nachtarbeitszuschlag vorsieht, verstößt nicht gegen den Gleichheitssatz, wenn nur der Wille der Tarifvertragsparteien umgesetzt wird, dass mit dem höheren Zuschlag die schlechtere Planbarkeit der unregelmäßigen Nachtarbeit ausgeglichen werden soll.

Sebastian Kolb, Berlin

Sebastian Kolb

Berlin

Mehr zur Person

▲ zum Inhaltsverzeichnis ▲

Veröffentlichungen

Dr. Michael Bachner (Hrsg.), Peter Gerhardt, Hajo A. Köhler, Michael Merzhäuser, Dr. Alexander Metz, Simone Rohs, Anna-Lena Trümner, Katharina Warczinski
BetrVG für den Betriebsrat, Kommentar zum Betriebsverfassungsgesetz, Bund Verlag, 4. aktualisierte Auflage 2023 (Dezember 2022)

Dr. Michael Bachner, Dr. Nicolai Jérôme Culik, Dr. Lars Weinbrenner
Neu im Aufsichtsrat, Tipps und Hinweise für Arbeitnehmervertreter und Betriebsräte, Bund Verlag, 3. Auflage 2023

Dr. Herbert Grimberg
Keine Angst vorm Arbeitsrecht, Handlungshilfe für Betriebsräte und Vertrauensleute, Schriftenreihe der IG Metall, Band 22, 2023, Mitautoren: Wolfgang Fricke, Wolfgang Wolter

Katharina Warczinski
BVerwG: Keine Beteiligungsrechte des Personalrats bei der Erstellung von Anforderungsprofilen
in: Zeitschrift für das öffentliche Arbeits- und Tarifrecht 2023, S. 153


Die Beiträge können über die Autoren unter ihrer Emailadresse angefordert werden.

▲ zum Inhaltsverzeichnis ▲

Kontakt

* Partner

Düsseldorf

Bahnstraße 16
D-40212 Düsseldorf
Tel.: 0211/300 43-0
Fax: 0211/300 43-499
duesseldorf@schwegler-rae.de

Lorenz Schwegler*
Felix Laumen*
Yvonne Reinartz*
Dr. Michael Schwegler*
Dr. Alexander Metz, LL.M.*

Peter Berg
Dr. Herbert Grimberg
Christian Mertens
Stefan Dieker
Simone Rohs

Berlin

Unter den Linden 12
D-10117 Berlin
Tel.: 030/440 137-0
Fax: 030/440 137-12
berlin@schwegler-rae.de

Michael Merzhäuser*
Heike Merzhäuser*
Dr. Sascha Lerch*
Dr. Lars Weinbrenner*
Patrick Kessler*
Hans-Otto Umlandt

Dario Dell’Anna
Sebastian Kolb
Katharina Warczinski
Dr. Nicolai Culik
Elisa Leipold
Prof. Dr. Herta Däubler-Gmelin

Frankfurt am Main

Berliner Straße 44
D-60311 Frankfurt am Main
Tel.: 069/21 65 99-0
Fax: 069/21 65 99-18
frankfurt@schwegler-rae.de

Dr. Michael Bachner*
Peter Gerhardt*
Ariane Mandalka
Ingolf Schumacher


Oldenburg

Am Festungsgraben 45
D-26135 Oldenburg
Tel.: 0441/38 03 89 8-0
Fax: 0441/38 03 89 8-99
oldenburg@schwegler-rae.de

Hajo A. Köhler*
Ralf Trümner*
Jürgen Oehlmann
Anna-Lena Trümner
Jörn Arne Broschat, LL.M.
Kilian Lönneker


München

Maximilianstraße 54
D-80538 München
Tel.: 089/23 23 629-0
Fax: 089/23 23 629-69
muenchen@schwegler-rae.de

Dr. Michael Schwegler* (Zweigstelle)
Michael Merzhäuser* (Zweigstelle)
Dominik Heidinger


Wissenschaftliche Berater:

Prof. Dr. Wolfgang Däubler
Prof. Dr. Bernhard Nagel

▲ zum Inhaltsverzeichnis ▲