vieles passiert gerade gleichzeitig: Industriebetriebe geraten durch hohe Energiekosten unter Druck, Investitionen aller Art in der Industrie gehen zurück, Aufträge werden weniger erteilt, der Fachkräftemangel wird in vielen Bereichen zunehmend sichtbar, der Umbau der Energieversorgung im Hinblick auf den Klimaschutz wird vorangetrieben, zur Erreichung der Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen, der EU und Deutschlands müssen Unternehmen neue Regelungen beachten, insgesamt werden hohe Bürokratiekosten beklagt. Aus alledem folgen Schließungs– und Abwanderungsgedanken von betroffenen Unternehmen und der mögliche Verlust von gut bezahlten Arbeitsplätzen, der mittelbar weitere Branchen und Bereiche in Mitleidenschaft ziehen würde.
Was bedeuten diese Entwicklungen für Betriebsräte und welche Rolle(n) können sie einnehmen? Wie sieht der rechtliche Rahmen aus? Gibt es vernachlässigte Ansätze?
Hierüber tauschen wir uns mit Gerd Hengsberger aus, der die virtuelle Non-Profit-Organisation „ThinkTank Rheinland“ gegründet hat und aus der Praxis Positiv- wie Negativbeispiele sowie Beschreibungen aktueller Problemlagen beisteuern kann.
schwegler rechtsanwälte:
Herr Hengsberger, was macht der ThinkTank Rheinland und warum haben Sie den Kontakt zu unserer Kanzlei gesucht?
Gerd Hengsberger:
Wir erleben die Veränderung am Standort Deutschland. Hier bricht die energieintensive Industrie weg. Stichwort Energiepreise: Das Thema hat wegen seiner Dramatik derzeit öffentliche Aufmerksamkeit, aber bereits seit der Einführung der Energiesteuer im Jahr 1989 investieren energieintensive Unternehmen unterhalb der Abschreibungsschwelle. Hinzu kommen jetzt Zweifel an der Energieversorgung, der Fachkräftemangel, regulatorische Anforderungen und eine Veränderung des internationalen Wettbewerbs des Finanzkapitals. Unsere Gesetze beruhen auf dem „Rheinischen Kapitalismus“, finanziert durch Kredite der Deutschen Bank. Jetzt regiert der amerikanische Kapitalismus mit einer starken Rolle der Eigentümer, in der häufig das Management keine eigenen Entscheidungen mehr treffen kann. Darüber hinaus gibt es jetzt die Vorgaben zur Erreichung der globalen Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030 und der von der EU und von Deutschland angestrebten Klimaneutralität, die häufig unter dem Begriff ESG laufen. ESG bedeutet E wie Environment, also Umwelt/Klima, S wie Social, also soziale Interessen, und G wie Government, was die Wahrung der Grundsätze einer ordnungsgemäßen Unternehmensführung meint. Soziale Interessen beinhalten die Interessen von Arbeitnehmern in ihrer Rolle als Arbeitnehmer im Unternehmen unmittelbar, aber auch ihr Interesse daran, in einer wirtschaftlich ausreichend starken Region zu leben, die wiederum ihnen persönlich und ihren Familien ein ihren Bedürfnissen gerecht werdendes Umfeld bietet mit allem, was zu der hierfür notwendigen sozialen Infrastruktur dazugehört. Idealerweise auf einem attraktiven Niveau, das Sicherheit für die Zukunft vermittelt. Zu den sozialen Interessen gehört aber ganz umfassend auch anzuerkennen, dass motivierte, kreativ denkende Mitarbeiter in den Unternehmen gebraucht werden, um die Zukunft zu gestalten.
Es kann und darf nicht alles bleiben, wie es ist. Aber wir wollen die Herausforderungen mit unseren Stärken beantworten. Wenn bei unserem Ansatz bei der Umsetzung der ESG die Wahrung der Arbeitnehmerinteressen gleichberechtigt eingebettet ist in die Wahrung anderer Interessen, dann sehen wir das als Stärke an. Diese Vereinbarung der unterschiedlichen Interessen miteinander zu zukunftsfähigen Projekten ist der Ausgangspunkt all unserer Überlegungen und Beratungen. Kein anderes Land außer Österreich kann dafür auf eine vergleichbare Sozialpartnerschaft zurückgreifen.
Das Management ist sehr global aufgestellt, hat die Option, Betriebe ins Ausland zu verlagern. Wo die Kosten zu hoch und unkalkulierbar sind, vielleicht sogar die Energieversorgung für die Produktion nicht nur teuer, sondern gefährdet ist, dort wird nach der Logik des Finanzmarkts nicht investiert.
Wer hat Interesse, die Industrie hier zu halten? Eigentlich wir alle, aber kraft seines Amtes auf jeden Fall der Betriebsrat. Wie bekommen wir es hin, dass Betriebsräte häufiger als bisher im Rahmen der vom Betriebsverfassungsgesetz vorgesehenen Partnerschaft aktiv werden? Das muss juristisch untermauert sein – wir wollen keine rechtsfernen Überlegungen. Wir kommen über die Herausforderungen und Handlungsoptionen zu den Paragrafen. Die Kontaktaufnahme zu schwegler rechtsanwälte erfolgte vor diesem Hintergrund und ist einer der Bausteine, wie wir versuchen, ideologiefrei alle Stakeholder zusammenzubringen: Arbeitnehmer, Betriebsräte, Gewerkschafter, Unternehmer, Manager, Führungskräfte, Investoren, Berater, Politiker, Wissenschaftler, Ingenieure und Experten, Vertreter von Verbänden und Vereinen, alle weiteren interessierten Bürger. Wir arbeiten unentgeltlich und unabhängig. Unser Ziel ist, unsere Erfahrungen, unser Wissen und unser Engagement zur Verfügung zu stellen, in die Breite zu tragen und möglichst viele Mitstreiter zu finden.
schwegler rechtsanwälte:
Ein wesentlicher Teil des rechtlichen Rahmens ist, dass am Ende immer der Arbeitgeber darüber entscheidet, ob betriebliche Maßnahmen durchgeführt werden, die zu Nachteilen für die Beschäftigten führen. Das Recht dazu beruht darauf, dass – bei allen auch für die Beschäftigten denkbaren Nachteilen – letztendlich der Arbeitgeber das unternehmerische Risiko trägt, dass das Unternehmen überhaupt bestehen und fortgeführt werden kann. Zusätzlich betreffen die zwingenden Mitbestimmungsrechte, die im Zusammenhang mit betrieblichen Maßnahmen interessant sein können, eher oder ausschließlich die Milderung von Nachteilen, die bei umgesetzten Maßnahmen eintreten können. Z. B. Maßnahmen der betrieblichen Berufsbildung bei Aufgabenänderungen, § 97 Abs. 2 BetrVG, und der Abschluss eines Sozialplans, § 112 BetrVG. Wenn in Interessenausgleichsverhandlungen auch nach § 87 Abs. 1 Nr. 2, 3, 10 und 11 BetrVG erzwingbare Mitbestimmungsrechte eine Rolle spielen, liegt das häufig daran, dass Arbeitgeber die Interessenausgleichssituation als günstig dafür ansehen, ein Gesamtpaket über die zwingend mitbestimmten und die nicht zwingend mitbestimmten Maßnahmen zu verhandeln.
Es dürfte jedenfalls auch an dieser rechtlichen Gemengelage liegen, dass in der Praxis doch relativ häufig schnell nach Bekanntgabe der arbeitgeberseitigen Planung ein Interessenausgleich auf Basis dieser Planung abgeschlossen und durch einen Sozialplan und/oder ein Freiwilligenprogramm flankiert wird.
Gerd Hengsberger:
Das kann im Einzelfall durchaus die richtige Lösung sein, ist in vielen Fällen aber tragisch. Hier werden Chancen vergeben, durch rechtzeitige Einbindung aller Stakeholder Beschäftigung zu erhalten. Zunächst natürlich im eigenen Betrieb. Aber am Ende ist es das Engagement der Beteiligten in vielen einzelnen Betrieben, die über die Attraktivität und Zukunftsfähigkeit des Standorts Deutschland entscheidet.
Wichtig ist, zu sehen, dass die Einzelfälle häufig nicht beziehungslos nebeneinanderstehen. Beispiel: Wird ein großer Industriebetrieb an einen weit entfernten Standort verlagert, kann das unmittelbar die Beziehung zu Zulieferern aus der Region in Frage stellen. Das gleiche gilt für die Forschungsnetzwerke, in denen viele Unternehmen engagiert sind und für die Zusammenarbeit mit örtlichen Universitäten in den Bereichen der Forschung, Entwicklung und Nachwuchsförderung. Mit jeder Standortverlagerung werden Wertschöpfungsketten auseinandergerissen.
Solche negativen Effekte können auch eintreten, wenn nur ein Teil des Betriebes geschlossen wird. D. h. auch wenn solche begrenzten Maßnahmen häufig noch durch Freiwilligenprogramme ohne betriebsbedingte Kündigungen umgesetzt werden können, sollte der Betriebsrat sorgfältig abwägen, ob er die Planung als solche mittragen oder Alternativen vorschlagen will.
Oft liegt der Hebel für den Betriebsrat darin, dass die Meinungen über die Planung im Unternehmen auseinandergehen, diejenigen, die andere Ideen haben als Schließung, Verlagerung oder Outsourcing sich aber nicht durchsetzen konnten. Ihre Möglichkeiten als Vorstandsmitglieder oder leitende Angestellte sind begrenzt, weil sie Befehlsempfänger sind und bei inhaltlichen Differenzen entlassen und durch jemand anderen ersetzt werden können. Beim Betriebsrat ist das nicht der Fall, er hat gesetzlich geregelte Beteiligungsrechte und Kündigungsschutz. Der Einsatz des Betriebsrats für seriöse Alternativvorschläge kann deshalb eine große Wirkung haben. Dabei ist auch wichtig zu wissen, dass etwa 80% der von Unternehmensberatungen vorgeschlagenen Maßnahmen nicht umgesetzt werden.
schwegler rechtsanwälte:
Ein Stichwort bei alledem ist die Rechtzeitigkeit.
Wir reden hier grundsätzlich über umfangreichere Betriebsänderungen im Sinne des § 111 Satz 1 BetrVG, die Beschäftigung im Betrieb bedrohen könnten oder bereits geplant sind. Für den Fall der Planung sieht § 111 Satz 1 BetrVG ausdrücklich vor, dass der Betriebsrat nicht nur umfassend, sondern auch rechtzeitig zu unterrichten ist. Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts hierzu ist eindeutig: Der Betriebsrat soll durch die Unterrichtung in die Lage versetzt werden, sowohl auf das Ob als auch auf das Wie der geplanten Betriebsänderung Einfluss zu nehmen; bloße Vorüberlegungen des Arbeitgebers sollen für die Unterrichtungspflicht nicht ausreichen, sondern eine hinreichende Konkretisierung erforderlich sein; keinesfalls darf mit der Durchführung der Betriebsänderung bei der Unterrichtung bereits begonnen worden sein. Sind Planungen aber erst einmal über Monate hinweg mit viel Aufwand konkretisiert worden, Alternativen geprüft und verworfen worden, Maßnahmenbündel geschnürt und ihre Kostenwirkung bewertet worden, ist häufig beim Arbeitgeber der Wunsch nach einem bestimmten Zielbild so verfestigt, dass es dem Betriebsrat kaum noch realistisch erscheint, Alternativszenarien zu entwerfen und über das Ob der Maßnahmen zu verhandeln. Die Behandlung nur des Wie im Interessenausgleich liegt dann häufig nahe. Möchte der Betriebsrat über Alternativen verhandeln oder solche Alternativen erst einmal durch einen betriebswirtschaftlichen Sachverständigen prüfen und ausarbeiten lassen, gerät er dabei oft zeitlich unter Druck.
Gerd Hengsberger:
Das zeigt die Bedeutung eines gut besetzten, aktiv tätigen Wirtschaftsausschusses, der alle erteilten Informationen kritisch überprüft, sie bewertet, sein Beratungsrecht intensiv nutzt und den Betriebsrat fortlaufend informiert. Nur dann ist der Betriebsrat in der Lage, seine Beteiligungsrechte auf Augenhöhe mit dem Arbeitgeber wahrzunehmen und z. B. dadurch, dass Informationen über Wirtschaftsdaten frühzeitig verarbeitet werden können, Verhandlungen über das Ob von Betriebsänderungen nicht am zeitlichen Druck scheitern zu lassen.
Wenn eine hinreichend konkretisierte Maßnahmenplanung nach § 111 Satz 1 BetrVG dem Betriebsrat vorgestellt wird, wird der Prozess in der Praxis meist so gestaltet, dass die Planung erst unmittelbar vorher dem Wirtschaftsausschuss nach § 106 BetrVG zur Kenntnis gegeben wird. Man steuert damit direkt auf das Interessenausgleichsverfahren zu; die Beratung im Wirtschaftsausschuss wird nicht mit Leben gefüllt. Das ist zu bedauern und könnte vom Wirtschaftsausschuss und Betriebsrat auch anders eingefordert werden. Mein Punkt ist aber, dass aufgrund der Vielzahl der Tatbestände, über die als wirtschaftliche Angelegenheiten nach § 106 Abs. 3 BetrVG zu unterrichten ist, der Wirtschaftsausschuss schon vor der Bekanntgabe von Maßnahmenplanungen erkennen kann, dass es Problembehandlungs- oder Optimierungsbedarf gibt. Außerdem können viele Probleme natürlich bereits Studien, die es für jede Branche gibt, oder der allgemeinen Medienberichterstattung entnommen und vom Betriebsrat aufgegriffen werden. Für energieintensive Betriebe zählt dazu z. B. alles, was mit dem Umbau der Energieversorgung zu tun hat.
Mit einer aktiven Nutzung des Wirtschaftsausschusses meine ich übrigens auch, dass der Betriebsrat Informationen, die der Wirtschaftsausschuss eingefordert hat und nicht erteilt bekommt, dann auch vor der Einigungsstelle nach § 109 BetrVG einfordert! Ich habe damit viele gute Erfahrungen gemacht. Auch die Einigungsstelle kann dafür genutzt werden, wichtige Stakeholder in das Verfahren einzubeziehen. Ich habe schon während ihrer Amtszeit als Ministerpräsidenten Wolfgang Clement und Kurt Biedenkopf zu Einigungsstellenvorsitzenden gemacht.
Ein nicht neuer, aber wichtiger gewordener und derzeit hoch aktueller Punkt im Katalog des § 106 Abs. 3 BetrVG ist übrigens die Regulatorik. Diese ist zwar als solche nicht genannt. Wie mittlerweile auch den Nachrichten regelmäßig zu entnehmen ist, hat die Regulatorik, dort meist allgemein unter Bürokratie zusammengefasst, aber große Auswirkungen auf Unternehmen. Das geht über den erforderlichen Einsatz von personellen Kapazitäten und Finanzmitteln über die Betroffenheit von Kundenbeziehungen bis hin zur Gefährdung des Geschäftsmodells. Ihr Einfluss auf die wirtschaftliche und finanzielle Lage des Unternehmens ist deshalb nach § 106 Abs. 3 Nr. 1 BetrVG unbedingt in die Berichterstattung aufzunehmen.
schwegler rechtsanwälte:
Wenn der Betriebsrat Problembehandlungs- oder Optimierungsbedarf erkennt, ist das der Moment, an dem er mit § 92a BetrVG arbeiten kann. Die Vorschrift räumt dem Betriebsrat umfangreiche Möglichkeiten ein, Vorschläge zur Sicherung und Förderung der Beschäftigung zu unterbreiten. Der Vorteil liegt darin, dass das Beteiligungsrecht aus § 92a BetrVG jederzeit genutzt werden kann, ohne besondere Voraussetzungen und ohne vorgegebenes Verhältnis zu § 106 BetrVG und § 111 BetrVG. Die in § 92a Abs. 1 Satz 2 BetrVG – nicht abschließend, was durch das „insbesondere“ gekennzeichnet ist – aufgeführten Einzelpunkte eröffnen dem Betriebsrat die Möglichkeit, tiefgreifende, umfangreiche und maßgeschneiderte Vorschläge zu erarbeiten und diese dem Arbeitgeber zu unterbreiten.
Es lohnt sich, sich hierbei die Tragweite der einzelnen Punkte vor Augen zu führen: Über die Aspekte, die eher die unmittelbare Organisation der Arbeit am bisherigen Produkt betreffen, reicht das Vorschlagsrecht bis hin zum Produktions- und Investitionsprogramm.
Gerd Hengsberger:
Niemand kennt das Unternehmen besser als der Betriebsrat. Dessen Mitglieder sind in der Regel langjährig im Unternehmen beschäftigt und an dessen Wohl und Wehe interessiert. Sie wissen häufig genau, welche Schwachstellen bestehen, was die internen und/oder externen Ursachen dafür sind und – jedenfalls in etwa – welche Lösungsansätze in Betracht kommen können. Trotzdem rutscht man viel zu häufig von der Information des Wirtschaftsausschusses nach § 106 BetrVG und des Betriebsrats zur Einleitung des Verfahrens nach §§ 111 ff. BetrVG gleich in die Formulierung eines Interessenausgleichs, der im Maßnahmenteil nur die Planung des Arbeitgebers beschreibt, und die Verhandlung des dazu passenden Sozialplans. Oder man sieht eine Situation, die Beschäftigung, gefährdet auf die Mitarbeiter zukommen, wartet aber ab, bis der Arbeitgeber seine schon von verfestigten Wünschen getragene Planung präsentiert. Dabei hat genau für diese Situationen der Gesetzgeber hier mit § 92a BetrVG eine wichtige Aufgabe für den Betriebsrat vorgesehen. Und er muss sie auch nicht allein lösen, sondern hat natürlich Anspruch auf einen wirtschaftlichen Berater. Dieser sollte unbedingt die Branche und ihr nationales und internationales Umfeld gut kennen und gut vernetzt sein, um geeignete und ggf. kreative Lösungsansätze zu finden. Lösungsansätze können sich auf abweichende Einschätzungen der vom Unternehmen bereits untersuchten Möglichkeiten beziehen, aber auch auf ganz neue Denkräume.
schwegler rechtsanwälte:
Der Betriebsrat, aber auch der Arbeitgeber, kann darüber hinaus zu den Beratungen nach § 92a BetrVG einen Vertreter der Bundesagentur für Arbeit hinzuziehen. Da es um Beschäftigungsförderung im Unternehmen und nicht auf dem Arbeitsmarkt geht, wird die Hinzuziehung aus Betriebsratssicht insbesondere dann von Interesse sein, wenn es um eine mögliche Förderung von Fortbildungs- oder Umschulungsmaßnahmen geht. Die Kommentierungen zu § 92a BetrVG beschreiben auch eine mögliche Rolle als neutrale Instanz bei Meinungsverschiedenheiten zwischen den Betriebsparteien. Inwieweit diese Rolle in Frage kommt, hängt natürlich von der Art der Meinungsverschiedenheit ab. Sollte der Betriebsrat die Hinzuziehung eines Vertreters der Bundesagentur für Arbeit erwägen, sollte im Hinblick auf dessen denkbare Rollen jedenfalls das genaue Ziel klar sein.
Wichtiger erscheint aber die wirtschaftliche Beratung, die neue Denkräume eröffnet und Arbeitsplatzabbau vermeidet, nicht behandelt oder die überhaupt erst dafür sorgt, dass es im Betrieb noch den Bedarf nach Fortbildung und Umschulung gibt.
Gerd Hengsberger:
Lassen Sie mich einige Praxisbeispiele aus aktuell laufenden Projekten nennen, damit klar wird, was ich meine:
Bei der Wipak im Industriepark Bomlitz haben nach mehreren Wellen des Personalabbaus Konzernleitung und Geschäftsführung erneut Stellenstreichungen angekündigt und Entgeltverzicht gefordert. Statt wie bisher gegen die geplanten Maßnahmen zu protestieren und am Ende dann dennoch wieder einen Interessenausgleich und Sozialplan zur Umsetzung genau dieser Maßnahmen abzuschließen, hat der Betriebsrat sich dafür entschieden, gemeinsam mit einem ThinkTank-Experten alternative Maßnahmen zu erarbeiten, konkret: Einen Umbau des Unternehmens hin zu nachhaltigem Wirtschaften insbesondere im Hinblick auf die Kreislaufwirtschaft. Erst wenn die Investitionen in die Nachhaltigkeit getätigt wurden, könnten Personalabbau- und Entgeltverzichtsmaßnahmen umgesetzt werden. Teil der Nachhaltigkeitsinitiative ist auch, dass sie möglichst auf den gesamten Industriepark ausgedehnt werden soll.
Aufgrund von Konzernentscheidungen sollte ein Betrieb zur Produktion von Autoreifen aufgegeben werden, ein Teil der Produktion sollte verlagert werden. Der ThinkTank Rheinland hat analysiert, dass Elektroautos eigene auf den jeweiligen Autotyp zugeschnittene Reifen brauchen. Es geht dabei um die Laufleistung der Batterie, die mit dem Rollwiderstand des Reifens zu tun hat, und um Haftungsprobleme des angepassten Reifens auf dem Asphalt. Darüber hinaus geht es um die allgemeinen Themen Vermeidung von Abrieb und Feinstaub, Einsatz nachwachsender Rohstoffe und Abfallvermeidung. Die Runderneuerung eines Reifens spart 40% Material und 60% Energie, ist also höchst CO²-relevant. Die Neureifenhersteller haben bisher kein Interesse an der Erneuerung, gleichzeitig werden sie von Billiganbietern aus Asien attackiert. Es gibt wie meist in den Wertschöpfungs– und Lieferketten unterschiedliche Interessen der Akteure, welche es win-win-basiert zu überwinden gilt. Dem ThinkTank Rheinland ist es gelungen, einen Weg zu finden, wo nur der auf das Auto, in Zusammenarbeit von Autofirma und Reifenhersteller entwickelte, erneuerbare und zugelassene Reifen, montiert werden kann. Die Produktion und Runderneuerung dieser Reifen hier im Rheinland entspricht optimal den ESG-Zielen einschließlich der Anforderungen an Lieferketten und bietet gleichzeitig einen Wettbewerbsvorteil. Auch hier haben wir Investoren gefunden und arbeiten mit den maßgeblichen Stakeholdern zusammen, z. B. auch in den Forschungs– und Entwicklungsinstituten.
Dann vielleicht noch ein anderes Beispiel: Mit einem kanadischen Unternehmen sind wir dabei, eine Hanf/Kalkstein–Produktion im Baustoffbereich in der Region zu realisieren. Durch dieses Hanf/Kalkstein–Projekt kennen wir das Potential, das Hanf als natürlicher, ganzjährig verfügbarer, im Rheinland gut gedeihender Rohstoff auch in anderen Zusammenhängen hat. So arbeiten wir vor dem Hintergrund der geplanten Schließung einer hiesigen Papierproduktion gerade an einem Projekt, welches es möglich machen würde, den Hanf komplett zu nutzen, d.h. was nicht als Faser für die Papierproduktion verwertet werden kann, kann im eigenen Kraftwerk als Biomasse zur Produktion der gesamten benötigten Energie genutzt werden und nach einer Umrüstung der Anlage die bisher verwendete Kohle ablösen. Da das Unternehmen auch eine Zellstoffproduktion hat, kann es den Hanf in die für Papier und Energie erforderlichen Fraktionen aufbereiten. Dem ThinkTank Rheinland ist es außerdem gelungen, einen großen Lebensmittelhändler zu finden, der langfristig Interesse an nachhaltigen Verpackungen hat. Damit ist es möglich, den Standort komplett auszulasten.
Wir erarbeiten keine Konzepte nur auf dem Papier. Unsere Konzepte sind mit allen relevanten Stakeholdern vor Ort, hier der Politik auf verschiedenen Ebenen, der Landwirtschaft, Ministerien, wissenschaftlichen Instituten, Kammern und Finanzinvestoren erarbeitet und deshalb konkret und umsetzbar.
Alle unsere Projekte sind auch für die Banken und Versicherungen interessant, müssen diese doch ESG–konforme Anlagen garantieren. Hierfür fehlt es bekanntermaßen an geeigneten Projekten. Der Vorwurf des Greenwashings auch bei Finanzprodukten kommt nicht von ungefähr.
schwegler rechtsanwälte:
In den geschilderten Fällen hat die vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen den Betriebsparteien funktioniert und das „S“ der ESG ist zur Geltung gekommen.
Aber wie steht es im Allgemeinen mit der Vereinbarkeit der Ziele von E, S und G untereinander?
Gerd Hengsberger:
Viele Unternehmen beschränken sich auf zwei der Nachhaltigkeitskriterien, wobei in der Regel das „S“ hinten runterfällt. Diese Prioritätensetzung kann unterschiedliche Gründe haben. Fakt ist, wir müssen E, S und G – wie wir es in den geschilderten Beispielsfällen getan haben – zwingend zusammendenken. Denn am Ende soll alles den Menschen dienen.
Ein Sonderfall dieses Zusammenhangs ist, dass wenn in Deutschland mit dem Ziel des Klimaschutzes Politik gemacht wird, die energieintensiven Unternehmen hier das Wirtschaften sehr erschwert, diese Unternehmen ihre Produktion – je nach Branche – mehr oder weniger einfach in andere Länder verlagern können. Dieses Risiko ist inzwischen so konkret, dass das Thema – mit reichlich Verspätung – den Weg in die regelmäßige Medienberichterstattung gefunden hat.
Das kostet hier viele, vor allem auch attraktive und gut bezahlte Arbeitsplätze und zieht somit bei uns das „S“ in Mitleidenschaft. Aber was noch viel schlimmer ist: Dem Klima, dem „E“, ist damit überhaupt nicht gedient, sondern im Gegenteil geschadet.
Der Vorstandsvorsitzende des Spezialchemiekonzerns Lanxess z. B. hat in einem Interview in der Rheinischen Post auf diesen Umstand hingewiesen, als es um die bevorstehende Schließung eines Krefelder Betriebes mit 61 Beschäftigten und den Verkauf oder die Schließung eines weiteren Krefelder Betriebes mit 52 Beschäftigten im Zusammenhang mit den sehr hohen Energiekosten ging.
Der Hintergrund ist folgender: Alle Länder, die üblicherweise Ziel von Verlagerungen sind, haben eine deutlich schlechtere CO²–Bilanz im Energiemix als Deutschland: Die USA plus 20%, China plus 50% und Indien sogar plus 80%. Außerdem haben wir in Deutschland einen hohen Klima– und Umweltschutzstandard in der Produktion und auch noch die höchste Recyclingquote in allen Branchen. Die Verlagerung ins Ausland ist nicht nur schlecht für Arbeitnehmer und Gesellschaft in Deutschland, sondern auch noch das Gegenteil von Klimaschutz!
Ein Beispiel von mittlerweile vielen ist die Speyra GmbH in Grevenbroich. Hier wurden vor einigen Monaten wegen der Energiekrise die Hochöfen geschlossen. Das ursprünglich in Grevenbroich mit modernsten Anlagen produzierte Aluminium wird jetzt aus der Türkei bezogen, wo es schlechtere Arbeitsbedingungen gibt und aufgrund von weniger Umweltauflagen und wegen des langen Transportweges jetzt viel mehr CO² verursacht wird, als es bei der Produktion vor Ort in Grevenbroich der Fall war.
Es ist klar, dass Klimaschutzmaßnahmen gestaltet werden müssen und hierzu auch eine weitestmögliche CO²–Reduzierung der Wirtschaft gehört, die insbesondere von den energieintensiven Industrien umgesetzt werden muss. Aber dieses Bewusstsein hat heutzutage jede Unternehmensführung. Auch sollen selbstverständlich die politischen Rahmenbedingungen so gestaltet werden, dass Anreize gesetzt und Verpflichtungen geregelt werden. Aber das muss eine Entwicklung sein, in der ein Schritt nach dem anderen gemacht wird, wenn auch zügig und konsequent. Was Deutschland aber macht, ist, das alte Haus abreißen, bevor das neue gebaut ist.
Soweit die Klimaschutzmaßnahmen auf EU–Vorgaben zurückzuführen sind, muss man dabei natürlich auch wissen, dass sie auf die vielen Mitgliedstaaten mit ungefähr 10% Wertschöpfungsbeitrag der Industrie am Bruttoinlandsprodukt viel weniger dramatisch wirken als auf Deutschland mit seinen mehr als 30%.
Das Problem ist im Übrigen nicht erst da, wenn Standortschließungen oder –verlagerungen beschlossen werden. Schon die Entscheidung vieler Unternehmen, Investitionen zurückzustellen oder gleich in anderen Ländern zu tätigen, ist eine gefährliche Entwicklung, die die Wettbewerbsfähigkeit von Betrieben in Deutschland gefährdet – und zwar sehr schnell. Denn mehr oder weniger große Investitionsentscheidungen müssen in Unternehmen ständig getroffen werden. Bereits im November 2022 hat z. B. Lanxess bekanntgegeben, nicht mehr in Werkserweiterungen an seinem Standort in Leverkusen zu investieren. Die 150 bis 200 Millionen Euro durchschnittliche jährliche Investitionen sollen nur noch ins Ausland fließen, solange sich an den Verhältnissen in Deutschland nichts ändert.
schwegler rechtsanwälte:
Mit Unternehmensübernahmen durch Finanzinvestoren gibt es noch einen Fall, der im Hinblick auf die Betriebsratsbeteiligung gesondert betrachtet werden sollte. Unternehmensübernahme meint den Erwerb der Anteile im Unternehmen, den share deal, im Gegensatz zum Erwerb von Vermögensgegenständen des Unternehmens, dem asset deal. Übernahmen stellen für sich genommen keine Betriebsänderung nach § 111 BetrVG dar. Der Gesetzgeber hat die Beteiligungsrechte des Wirtschaftsausschusses und des Betriebsrats im Betriebsverfassungsgesetz wegen der Bedeutung von Unternehmensübernahmen aber im Jahr 2008 erweitert. Die Regelungen gelten unabhängig davon, ob das Unternehmen börsennotiert ist. In § 106 Abs. 3 Nr. 9a BetrVG ist die Übernahme des Unternehmens, wenn hiermit der Erwerb der Kontrolle verbunden ist, in den Katalog der wirtschaftlichen Angelegenheiten aufgenommen worden. Damit greift die Pflicht des § 106 Abs. 2 zur rechtzeitigen und umfassenden Unterrichtung des Wirtschaftsausschusses, einschließlich der Vorlage der erforderlichen Unterlagen und der Darstellung, welche Auswirkungen auf die Personalplanung es gibt. Zur Unternehmensübernahme ist klargestellt, dass Angaben über den potenziellen Erwerber gemacht werden müssen, die auch seine Absichten im Hinblick auf die künftige Geschäftstätigkeit des Unternehmens und mögliche Auswirkungen auf die Arbeitnehmer umfassen. Gibt es keinen Wirtschaftsausschuss, ist wichtig zu wissen, dass § 109a BetrVG das Unterrichtungs- und Beratungsrecht bei Unternehmensübernahmen mit Kontrollerwerb ausnahmsweise dem Betriebsrat zuweist. Für börsennotierte Unternehmen gelten weitere Regelungen aus dem Wertpapiererwerbs– und übernahmegesetz, die aber den Betriebsrat betreffen und keine Aussage zur Unterrichtung und Beratung nach § 106 BetrVG treffen.
Gerd Hengsberger:
Mein wichtigster Punkt bei Unternehmensübernahmen ist: Wir haben bereits thematisiert, dass die vertiefte inhaltliche Auseinandersetzung des Betriebsrats mit Planungen des Unternehmens – insbesondere wenn sie zu dem Wunsch führt, über seine Beratungsrechte Einfluss auf diese Planung zu nehmen – das frühzeitige Vorliegen von Informationen erfordert. Das heißt: Der Wirtschaftsausschuss muss unterrichtet werden, wenn der Finanzinvestor anruft – nicht, wenn alle Bedingungen ausgehandelt sind und durch den Übernahmevertrag nur noch formal verbindlich gemacht werden müssen.
schwegler rechtsanwälte:
Das wäre in der Tat zu spät. Die Übernahme ist ja mit dem Wirtschaftsausschuss zu beraten.
Dass für § 106 Abs. 3 Nr. 9a BetrVG bezüglich der Beratungspflicht keine Besonderheiten gelten, hat das Bundesarbeitsgericht gegen teilweise andere Ansichten in der juristischen Literatur bereits 2016 entschieden.
Der Wirtschaftsausschuss kann die Perspektive der Arbeitnehmer einbringen, je nach Fallgestaltung z. B. Alternativen zu einem Arbeitsplatzabbau oder die Bevorzugung eines bestimmten Interessenten, dem man eher als anderen Interessenten abnimmt, längerfristig den Standort aufrecht erhalten zu wollen.
Teilweise wird als Argument gegen die Beratungspflicht angeführt, der Unternehmer, in Person also die Geschäftsführung, sei zur Unterrichtung gar nicht in der Lage und habe ja auch keine Entscheidungskompetenz, denn die Veräußerung erfolge durch die Gesellschafter. Die Befürworter der Beratungspflicht weisen aber darauf hin, dass die Geschäftsführung im Regelfall so intensiv in die Prüfung möglicher Übernahmen eingebunden ist, dass sie sehr wohl über die relevanten Sachverhalte informieren kann und außerdem auch einen erheblichen tatsächlichen Einfluss auf die Übernahme oder ihre genaue Gestaltung haben kann. Eine Auslegung des Gesetzes gegen seinen Wortlaut, der den Unternehmer unterschiedslos zur Beratung über alle wirtschaftlichen Angelegenheiten verpflichtet, hat deshalb auch keine Tatsachenbasis.
Gerd Hengsberger:
Das kann ich aus der Praxis nur bestätigen. Eine Unternehmensübernahme ist extrem komplex. Gesellschafter und Erwerber brauchen das Management. Es geht doch vollkommen am Sinn und Zweck der Arbeitnehmerbeteiligung vorbei, Wirtschaftsausschuss und Betriebsrat aus den Überlegungen rauszuhalten, bis der Businessplan des Erwerbers, der für die Auswirkungen auf die Belegschaft entscheidend ist, fertig ist. Bei Finanzinvestoren wird das besonders deutlich, wenn mit dem Management des Unternehmens – natürlich vor der Übernahme – ein gemeinsamer Businessplan festgelegt wird, mit dem erreicht werden soll, dass sich die Investition in das Unternehmen in dem festgelegten Zeitraum rentiert. Über diesen Businessplan gibt es direkt vor der Unterschrift nichts mehr zu verhandeln.
Das gleiche gilt, wenn vor der eigentlichen Übernahme schon Eckpunkte des Übernahmeangebots verbindlich geregelt werden.
schwegler rechtsanwälte:
Deshalb stellt z. B. die Kommentierung im Fitting zu Recht darauf ab, dass vor jeder Handlung mit präjudizierender Wirkung die Unterrichtungs- und Beratungspflicht greift und nicht erst vor der Übernahme. Der Businessplan wird hier genannt, aber auch rechtsverbindliche Vorverträge, die die Gesellschafter zur Annahme eines Übernahmeangebots verpflichten, wenn der Erwerber dabei die im Vorvertrag festgelegten Bedingungen einhält, und die sogenannte freundliche Übernahme, bei der schon im Vorfeld wesentliche Inhalte der zukünftigen Geschäftspolitik festgelegt werden. Nicht nur Vorvereinbarungen mit rechtlich präjudizierender Wirkung sollen aber Voraussetzung für die Unterrichtungs– und Beratungspflicht sein. Richtigerweise soll es ausreichen, dass eine due diligence durchgeführt wurde und danach Vertragsverhandlungen aufgenommen werden. Spätestens dann ist zumindest die Richtung der Pläne des potenziellen Erwerbers bekannt. Nicht richtig sein kann deshalb, aus der Erwähnung des Bieterverfahrens in § 106 Abs. 2 Satz 2 BetrVG zu schließen, dass ein relevanter potenzieller Erwerber immer nur ist, wer schon ein verbindliches Angebot abgegeben hat.
Gerd Hengsberger:
Der rechtliche Rahmen gibt also einiges her, was die rechtzeitige und eingehende Befassung des Betriebsrats mit Umstrukturierungen und Übernahmen angeht. Wir haben viel zum Ernst der Lage zusammengetragen. Für viele weitere Zahlen, Daten und Fakten ist hier gar kein Platz. Ich wünsche mir sehr, dass viele Betriebsräte von den ihnen gegebenen Möglichkeiten Gebrauch machen, um die Herausforderungen zu meistern.
Gerd Hengsberger, ThinkTank Rheinland
Rechtsanwältin Yvonne Reinartz, Partnerin von schwegler rechtsanwälte am Standort Düsseldorf
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